(Unaufgeforderte und unbezahlte Werbung, rein persönliche Empfehlung eines selbst gekauften Buches)
Eher durch Zufall bin ich auf diesen ganz frisch ins Deutsche übertragenen Roman des bekannten zeitgenössischen russischen Autoren Jewgeni Wodolaskin gestoßen.
Mich reizte vor allem der Klappentext, doch was sich dahinter verbarg, war tiefer und bewegender, als ich erwartet hatte. Spannend ist zudem, dass sich das Buch im Verlauf der Lektüre immer mehr mit meinem Monatsmotto „Zeit und Zeiten“ verknüpfte.
Jewgeni Wololaskin: Luftgänger
In einem russischen Krankenhaus erwacht ein ca. 30 jähriger Mann, der das Gedächtnis verloren hat. Immerhin kann ihm der behandelnde Arzt seinen Namen verraten: Innokenti Petrowitsch Platonow. Wie findet man sich in einem Leben zurecht, in dem die Vergangenheit mitsamt Freunden, Familie und Erlebnissen ausgelöscht ist?
In ein Notizbuch, das der Arzt ihm in die Hand gibt, notiert Innokenti die ganz allmählich im Bewusstsein auftauchenden Mosaiksteine seines Lebens. Mal taucht in der Erinnerung ein Name, mal ein Geruch oder Geräusche, ein Ereignis auf, aber noch alles ohne Zusammenhang.
Es irritiert ihn allerdings, dass er sich an eine behütete Kindheit im Zarenreich Anfang des 20. Jahrhunderts erinnern kann, während die Tabletten auf seinem Nachtisch aus dem Jahr 1999 stammen. Immerhin weiß er durch den Arzt von der Konstante des Ortes:
„Doktor, wir sind doch in Russland?“, frage ich
„Ja, gewissermaßen.“ (S. 20)
Die Erinnerungsbruchstücke, die immer wieder hin und her geschoben und ergänzt werden, ergeben langsam ein Bild.
Innokenti Platonow wurde tatsächlich im Jahr 1900 geboren, geriet dann nach der Oktoberrevolution in die Mühlen der sowjetischen Machthaber. Als vermeintlicher Verbrecher und politischer Gefangener wurde er im Straflager zu wissenschaftlichen und medizinischen Zwecken – eingefroren. Nun hat die heutige Wissenschaft ihn wieder in unsere Gegenwart hinein aufgetaut. Wie wird sich Innokenti mit seiner Vergangenheit in dieser, seiner Zukunft zurechtfinden?
„Wissen Sie, damals waren sogar die Geräusche anders, die ganz normalen Straßengeräusche.[…]
Über die Wörter kann man in Geschichtsbüchern nachlesen, über die Geräusche dagegen nicht. Wissen Sie, was es heißt, alle diese Geräusche auf einen Schlag zu verlieren?“ (S. 169-170)
Tatsächlich kann Innokenti noch einmal seine mittlerweile greise, im Sterben liegende Geliebte sehen. Doch biologisch befindet er sich im Alter von deren Enkelin, in die er sich verliebt. Kein Wunder, dass sich Öffentlichkeit, Presse und die PR-Branche um so einen „Mann aus dem Eis“ reißen.
Fazit
Wodolaskin macht aus diesem ungewöhnlichen Helden und seiner Geschichte kein Science Fiction oder Fantasy, sondern einen berührenden Roman über die persönliche Entwicklung eines Menschen, der “seine Zeit” verloren hat. Zeit und Zeitverhältnisse werden zu einem roten Faden, der stets mit der Handlung verwoben ist.
… aber dies ist einfach nicht meine Zeit, sie ist mir fremd, das fühle ich, und zu einer fremden Zeit kann ich keine Nähe entwickeln. (S. 286).
Durch die langsam auftauchenden und sehr persönlichen Erinnerungen der Hauptfigur, unternimmt man eine bildreiche Reise durch die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Spannend ist es auch, das Russland der Gegenwart durch die Augen von Innokenti zu erleben.
Bei diesem Buch stimmte für mich alles. Ich mochte die lebendige Sprache, die berührende und zugleich kunstvolle Geschichte, die ungewöhnliche Weise, ein Portrait Russlands zu erstellen und die emotionale Tiefe.
Mein Lieblingsbuch im Monat April (und deshalb verlinkt bei Andreas /Karminrot-blog Aktion “Mein Buch des Monats”)
Jewgeni Wodolaskin: Luftgänger
Übersetzerin: Ganna-Maria Braungardt
Aufbau Verlag, Berlin, März 2019
429 Seiten
Liebe Andrea,
das liest sich aber auch nicht schlecht und ich finde es schon sehr schlimm, wenn man das Gedächnis verliert.
Ich habe mir auch zwei Bücher angeschafft, aber noch nicht angefangen zu lesen.
Mal sehen.
Lieben Gruß Eva
die dir einen schönen Tag wünscht, heute gibt es 27 Grad, also weg mit dem Radl ans Wasser
das klingt spannend. überverlorene geräusche hab ich noch nie nachgedacht, aber manchmal denke ich, dass ich jetzt auch in der falschen zeit lebe und erinnere mich an meine eigene kindheit, die so extrem anders war als die der meisten heutigen kinder.
liebe grüße
mano
Liebe Andrea,
das klingt nach einem sehr schönen Roman, herzlichen Dank für die Vorstellung und gute Beschreibung!
Ich wünsche Dir einen freundlichen Tag!
♥ Allerliebste Grüße, Claudia ♥
Deine Lesetipps nehme ich immer gerne auf, dieses Buch scheint doch eine tragische Geschichte zu sein, aber klingt interessant für mich, danke für den Tipp, lg