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Wie ein Vogel im Käfig {Buchtipp}

17. August 2024

Bestimmt kennt ihr mein Faible für gute Kinderbücher. Da schaue ich mir natürlich auch gerne neu erschienene Bücher an, die in das Lesealter meiner Enkelkinder fallen. Das schmale Büchlein, das ich euch heute vorstelle, würde ich gerne mit der wachen, klugen zukünftigen Erstklässlerin anschauen und lesen. Die Illustrationen wird sie bestimmt lieben. Und die Fragen werden unaufhörlich aus ihr heraussprudeln.

Das Büchlein dreht sich um eine Kindheit in Ostberlin vor dem Mauerfall. Ja, ich bin älter als die Autorin Gerda Raidt (geb. 1975) und weiß nur zu gut um diese Zeit. Zwar bin ich ein Westkind, aber mit einer Familienhälfte im Osten, die wir immer wieder besuchten, sobald es möglich war. Ich kann die Fragen also beantworten, denn das ist nötig.

Gerda Raidt: Wie ein Vogel. Eine Kindheitsgeschichte aus Ostberlin (Reihe: Wir Kinder von früher)

„Wie war das eigentlich früher, als Ihr noch Kinder wart?“ Eine Frage, die vielen Eltern und Großeltern von Kindern und Enkeln gestellt wird. Da holt man doch gern mal das Fotoalbum heraus und kramt in seinen Erinnerungen.

Genau das ist die Stelle, an der uns das schmale kleine Kinderbuch von Gerda Raidt abholt. Sie erzählt aus der Sicht der kleinen Gerda, die in Ostberlin aufgewachsen ist.

Gerdas Alltagsleben in Ostberlin

Schwarzweiß-Fotos aus Gerdas Familienfotoalbum dienen als Ansatz der Rückerinnerung. Da lernen wir sie kennen: Klein Gerda, ihre Eltern, den Bruder, die Oma und natürlich Omas Wellensittich. Gerda kann die Erinnerung in die Welt in Farben zurückholen, so dass sie für uns auch lebendig wird.

Wie ein roter Faden zieht sich das Motiv der Vögel durch das Buch von Anfang bis zum Ende, sowohl im Bild als auch im Text. Man kann sich von den vielen wunderschönen Zeichnungen von Vögeln und  Federn einfach nur bezaubern lassen. Aber man kann an dieser Stelle auch interpretierend in die Tiefe gehen. Dazu aber später…

Wir erleben Teile von Gerdas Alltagsleben in der DDR. Was ist in ihrer Erinnerung hängen geblieben?
Die allgegenwärtige Berliner Mauer, der Zwang zum Mittagsschlaf in der Krippe, dem Gerda als Mittagskind durch ihre umsichtige Oma entgehen kann, selbst gebastelte Friedenstauben aus Papier und Fahnenappell in der Schule.

Omas Mitbringsel

Die schönen Dinge kommen immer als bunte Geschenke der Oma, die in den Westen darf. Gerda wird älter und damit wandeln sich auch die Wunschgeschenke aus dem Westen.

Dazwischen immer wieder Erinnerungen an die Vögel, die ungehindert über Mauern fliegen können, die gerettet werden, einem zufliegen oder auch fliehen. Oder sie sitzen halt im Käfig, wie Omas Wellensittiche. 

Am Ende wird für Omas letzten Vogel eine freiere Zeit anbrechen und auch für Gerda, ihre Familie und die Bürger der DDR wird die Mauer fallen. Ein gutes Ende.

Neben den wunderschönen Illustrationen, die ein Genuss zum Anschauen sind, ist auch der Text sehr verständlich und kurz gehalten für Kinder.

Es bleiben viele Fragen

Aber mir bleiben ein paar Fragen und Stellen, die mir etwas „aufstoßen“.

Gelegentlich habe ich das Gefühl, dass das Leben in Ostberlin mit Weichzeichner gemalt wird. Es sind nur rein materielle Dinge, die Gerda entbehrt. Sie ist mit zunehmendem Alter verzweifelt, weil sie nicht zum Shoppen der angesagten Dinge in den Westen darf.

„Die schönen Dinge kamen leider immer aus dem Westen.“

S. 55

Das war alles?
 Irgendwann flüchtet die Familie der Freundin Ina. So wie die Dinge bis dahin dargestellt sind, fragt sich das lesende Kind unwillkürlich: Warum? Um endlich die feinen Westsachen selber zu kaufen? Flieht man deshalb? Irgendwas fehlt doch da?

Dann endlich, der Fall der Mauer!

„Die Mauer war offen! Endlich konnte ich in den Westen und mir selbst all die Dinge kaufen, die ich haben wollte.“

S. 63

Das ist der Beginn ihres bunten Lebens mit „Plastiktüten“.

Ehrlich gesagt, hat mir dieser rein materielle Ansatz erst mal die Sprache verschlagen.
Aber immerhin gibt es ja noch den roten Faden des Vogelmotivs. Nehmen wir mal das Bild der Wellensittiche im Käfig als Situation in der DDR. Denn die Käfigvögel begleiten Gerda in der ganzen Phase des Heranwachsens. Am Ende konstatiert sie   „Jeder soll fliegen können, wohin er will.“ und lässt den Vogel in die etwas größere Freiheit der Voliere. 

Verstehen die Kinder dieses Bild des Käfigvogels mit dieser Volierenfreiheit?

 Ich erwarte keine politische Abhandlung für Kinder, aber mit dem einen oder anderen Satz oder Bild, hätte man auch auf die politische Unfreiheit und Unterdrückung hinweisen können. Das haben damals auch Kinder erfasst.
Irgendwie klingt dann in meinem Ohr der Satz: „Helmut, nimm uns an die Hand, und führe uns ins Wunderland.“ Manch eine/r Im Osten malt sich die DDR-Vergangenheit gerade in Pastellfarben. Da kommt so was nicht gut.

Fazit:

Ein sehr schön aufgemachtes Buch für Kinder, dass sie aber am besten mit einem Erwachsenen an der Seite anschauen sollten, der manches ergänzen und erklären kann. Denn es bleiben für Kinder sehr viele Fragen offen.

Ich bedanke mich beim Klett-Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.

Gerda Raidt:
Wie ein Vogel
Klett-Kinderbuch August 2024
88 Seiten
Empfohlen ab 7 Jahren

  • Britta 18. August 2024 at 10:11

    Ich lebe mein ganzes Leben in NRW und kenne die Zeit vor dem Mauerfall. Zu Hause war das Leben hinter der Mauer kein Thema. Das war so und berührte das Leben meiner Eltern nicht. Als die Mauer fiel war ich 22 Jahre alt und mein ältester Sohn noch nicht geboren. Für meine Kinder gibt es keine Zeit vor dem Mauerfall. Natürlich haben wir es ihnen erzählt, spätestens als das alte Deutschlandreisespiel ausgepackt wurde und die innerdeutsche Grenze zu Umwegen auf dem Spielbrett führten.
    Was ich sagen will. Ich habe keine Ahnung wie es war dort zu leben. Wenn heute jemand von dieser Zeit erzählt, ist es meistens nostalgisch. Mit einer Sehnsucht in der Stimme. Zumindestens in meinem Umfeld. Mittlerweile kenne ich mehr Geschichten über das Leben als Mensch,( aus Büchern die ich las) warum man floh und das ganz bestimmt nicht aus Konsumgründen.
    Mich würde interessieren, was die Autorin zu deinen Fragen sagt.

    Liebe Grüße,
    Britta