Lesen und Bücher waren schon Inhalt eines meiner letztjährigen Jahresprojekte. In diesem Jahr sollt auch Ihr etwas mehr davon haben. Deshalb lautet eines meiner Projekte des Jahres 2024, mindestens eine Buchbesprechung pro Monat auf dem Blog zu veröffentlichen.
Im Januar starte ich mit einem Buch, das ich eigentlich gar nicht für mich gekauft haben, sondern um es zu verschenken. Wenn ich ein Buch für Kinder und Jugendliche in der Familie erwerbe, lese ich es aber grundsätzlich zuerst selber. Es soll ja auch perfekt zum Kind passen und auch wirklich lesenswert sein. Mein ältestes Kindeskind liebt Graphic Novels, ein Genre, in dem ich mich nicht so auskenne. Sie ist sehr interessiert an naturwissenschaftlichen und politischen Themen. Also griff ich zu einer 2020 erschienen Graphic Novel mit einem leider wieder sehr aktuellen Thema.
Jurga Vilé (Autorin), Lina Itagaki (Illustratorin): Sibiro Haiku. Eine Graphic Novel aus Litauen.
Die Tatsache, dass meine Tochter Litauen von einem Einsatz in einem Work-Camp dort selber kennt, stellt einen weiteren persönlichen Bezug zu diesem Buch dar.
Dass ein Haiku eine sehr kurze und traditionelle japanische Gedichtform ist, wird mittlerweile schon vielen geläufig sein. So ist der Buchtitel zumindest im Ansatz erklärt.
Doch für das Verständnis ist vielleicht ein bisschen mehr Hintergrundwissen über Litauen nicht schlecht. Im Buch selber findet sich deshalb ein erläuterndes Nachwort der Übersetzerin. Auch die Einleitung bereitet ein bisschen darauf vor.
Kurzer Blick auf die litauische Geschichte des 20. Jahrhunderts
Bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine war vermutlich einigen von Euch die Geschichte Litauens nicht so präsent. Ich greife jetzt nur bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts zurück, die litauische Geschichte ist durchaus weitläufiger… Litauen war bis 1917 Teil des russischen Zarenreichs und erklärte 1918 seine Unabhängigkeit. Als 1940 die Rote Armee der UdSSR einmarschierte, wurden Gegner des Bolschewistischen Regimes (und jeder auf den irgendein Verdacht fiel, naja, Ihr wisst schon…) deportiert – 17.000 Menschen, darunter 5100 Kinder. Es folgte Umwandlung des freien Litauen in die bis 1990 bestehende Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik.
Die Gewalt nahm kein Ende. Zwischen 1941 bis 1944 war Litauen von der Deutschen Wehrmacht besetzt. Fast alle der 220.000 litauischen Juden wurden ermordet. Nach der Rückkehr der roten Armee wurden alle vermeintlichen Kollaborateure und sonstige Verdächtige von den Sowjets ebenfalls wieder deportiert. (Genauso wurde auch mit anderen Volksgruppen verfahren, siehe Krimtartaren, Wolgadeutsche, Schwarzmeerdeutsche etc. pp…. Wie auch gerade wieder in ukrainischen Gebieten, die unter russischer Besatzung stehen.)
Seit den Werken von Alexander Solschenizyns (Archipel GULAG) habt Ihr vielleicht auch eine Vorstellung von den unmenschlichen Arbeits- und Strafgefangenenlagern der UdSSR. Deportation und Verbannung nach Sibirien oder auch Kasachstan sind seit Stalins Zeiten damit verbunden.
1990 erlangte Litauen wieder seine Unabhängigkeit. 1991 versuchten pro-sowjetische militärische Kräfte erfolglos, die junge Demokratie mit Panzern zu stürzen. Das Volk wehrte sich vehement. Seit 2004 ist Litauen Mitglied von EU und NATO.
Das furchtbare Schicksal der verschleppten Litauer
Nun erzählt die litauische Autorin Jurga Vilė in dieser Graphic Novel die Geschichte ihres Vaters Algiukas Mielis (gerufen Algis) aus seiner Perspektive eines 13jährigen. Vollkommen unvorbereitet wurde er mit seiner ganzen Familie morgens von sowjetischen Soldaten abgeholt und mit anderen Menschen aus der litauischen Bevölkerung in Viehwaggons verfrachtet. Das Ziel waren Arbeitslager in Sibirien.
Da die Graphic Novel mit der späteren Rückkehr der Kinder im „Zug der Waisen“ beginnt und die Geschehnisse im Rückblick erzählt werden, wissen wir als Leserinnen, dass zumindest ein paar Kinder Litauen wieder sehen werden, der Erzähler überleben wird.
Algis bleibt zusammen mit seiner älteren Schwester Dalia und seiner Mutter Ursula. Doch vom Vater werden sie getrennt. Sie werden ihn nie wieder sehen. Auch Algis bester Freund der Ganter Martin, den er heimlich mitnimmt, als sie verschleppt werden, wird von sowjetischen Soldaten getötet. Doch Algis fühlt sich immer wieder wie magisch von Martins schützenden Flügeln geborgen. Die Geister der Verlorenen und Gestorbenen werden ihn nun stets begleiten.
Wir sehen die Ereignisse und die Menschen durch Algis scharf beobachtende Augen. So erleben wir auch, wie die Charaktere damit umgehen, angesichts des Martyriums und der Grausamkeiten im sibirischen Lager zu überleben. Algis Schwester Dalia, versucht es mit dem Stricken, seine Tante Petronella klammert sich an die Liebe zu den japanischen Haikus, Origami und das Singen. Ja, sogar ein Chor der Gefangenen entsteht. Der Name “Apfelchor“ soll an die Äpfel der litauischen Heimat erinnern.
Doch der Tod lauert überall. Viele der Gefangenen sterben durch Gewalt, Hunger, Unglücksfälle oder Naturkatastrophen wie einem Schneesturm. So scheint es fast wie ein Wunder, dass Algis, Dalia und ihre Mutter überleben. Mit dem ratternden Waisenzug kehren allerdings nur die überlebenden Kinder zurück in die alte Heimat, die nicht mehr die ist, die sie verließen.
Ein Schatz an Illustrationen
Eine Graphic Novel lebt natürlich von ihrer Gestaltung. Lina Itagaki gelingt es mit ihren lebhaften Illustrationen und Zeichnungen sowohl der Tragik und Dramatik der Ereignisse gerecht zu werden, als auch die Hoffnungsschimmer und Farben der Liebe und Güte einzufangen. Der Stil ist interessant variierend von doppelseitigen Illustrationen, Text-Bild-Collagen bis zu Einzelszenen in Vignetten, Briefen an Vater oder Onkel und wunderschönem Handlettering der Illustratorin. Auch Lina Itagaki hat einen persönlichen Bezug zu dem Inhalt der Novel, denn auch ihr Großvater gehörte zu den Deportierten.
Ist so eine Graphic Novel überhaupt schon etwas für Jugendliche ab 13 Jahren?
Unbedingt.
Die Geschichte wird so erzählt und dargestellt, dass Jugendliche der Gegenwart sie verstehen können. Das Thema ist leider wieder hochaktuell und wird hier direkt erlebbar. Besonders betroffen macht, dass sich Geschichte leider wiederholt, wenn man die Ursache nicht ändert.
Deportation und Alltag in diesen grausamen Lagern werden lebendig dargestellt. Das unvorstellbare Geschehen wird begreifbar. Doch auch Hoffnung und Hilfe scheinen durch. Es ist bewegend, wie die Charaktere ihre Kraft mobilisieren, um nicht an dem Leid zu zerbrechen. Sie schöpfen Kraft aus der Musik, aus der Fantasie, aus der Sprache, aus dem Miteinander.
Mit Sicherheit wird die Geschichte auch auf Jugendliche eine Sog ausüben und sie berühren, wie sie es bei mir als Erwachsene getan hat. Durch den geschickten Aufbau verlässt einen als Leser*in nie die Hoffnung auf irgendeine Art von gutem Ende für Algis.
Der Übersetzerin Saskia Drude hat den den Text in einen knappen poetischen Ton ins Deutsche übersetzt. Gerade die Sprache des Erzählers Algis trifft die eines Jugendlichen.
Jurga Vilé und Lina Itagaki ist mit dieser Graphic Novel kleines Juwel gelungen, das auch schon Preise gewonnen hat.
Ein Buch zum Selberlesen und zum Verschenken an Jugendliche.
Jurga Vilé (Autorin), Lina Itagaki (Illustratorin):
Sibiro Haiku
Übersetzerin u. Verfasserin des Nachworts: Saskia Drude
Basel: Baobab Books 2020
240 Seiten
Graphic Novel für Jugendliche ab 13 Jahren
unbezahlte Werbung, habe das Buch selber gekauft und bezahlt.
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Gefragt hab ich mich ja schon, ob das ein Thema für einen so jungen Menschen ist. Die Geschichte des Baltikums kenne ich aus verschiedenen Quellen, auch literarischen bzw. durch Recherchieren für ein Porträt ( ein Enkel ist momentan auch dort ). Und von daher weiß ich, dass es eine grausame Geschichte ist, schon ziemlich lange ( und mit ebenso langanhaltenden Auswirkungen, wie wir gerade erfahren ). Ich freue mich aber über diesen Tipp von dir und werde das Buch innerlich mal “notieren”.
LG
Astrid
Einmal: das Jahresprojekt passt doch super zu Dir. Du hast immer schön gern Bücher vorgestellt.
graphic novells finde ich gerade in schwierigen Themen für Kinder und Jugendliche ein super Medium. Auch in anderen Bereichen. Und fast alle, die ich mal so in der Hand hatte, sind sehr aufmerksam mit ihren Themen umgegangen
Ich freue mich schon auf Deine Buchbesprechungen.
Liebe Grüße
Nina
Eine schöne Buchvorstellung, liebe Andrea. Sogar mich “gluschtet” es das Buch zu lesen, so lebendig wie du es uns Vorgestellt hast. Kinder und Jugendbücher finde ich wichtig, dass man den Inhalt kennt, bevor man es schenkt.
L G Pia