Bücher

Ein fesselndes Stück Medizingeschichte {Buchtipp}

20. September 2023

(Werbung: Danke an den Fischer Verlag, der mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte. Meine eigene Meinung zum besprochenen Buch behalte ich mir vor.)

Hallo, hier bin ich wieder! Gleich habe ich euch ein extrem spannendes Buch mitgebracht, dass ich euch sehr empfehlen kann (auch wenn es euch möglicherweise vom Bloggen abhält, weil es euch derart fesselt .)

Die Sache mit dem Würfelzucker

Die letzten drei Jahre haben viele von uns, was Pandemien, Epidemien und Impfungen betrifft, sensibilisierter gemacht. Doch habt Ihr auch im Bewusstsein, dass bereits vor gar nicht so vielen Jahrzehnten eine andere Epidemie grassierte und alle Hoffnungen auf der Entwicklung eines Impfstoffes lagen?

Ist Euch die Werbekampagne mit dem Slogan: “Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß.” ein Begriff? Genau: Polio!

Polio (Kinderlähmung) ist keine neuzeitliche Erkrankung, aber in bedrohlichem Umfang verbreitete sie sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die USA beispielsweise wurde immer wieder von epidemischen Wellen überzogen. Das Rennen um einen Impfstoff begann, denn eine Heilung war und ist bis heute nicht möglich.

1960 wurde in den USA ein effizientes Vakzin mit lebenden Viren in Form einer Schluckimpfung entwickelt und 1961 dort in erfolgreichen Massenimpfungen eingesetzt.
Wie sah es in der BRD aus, die 1961 die höchste Polio-Rate in ganz Europa hatte (nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts – 4.600 Erkrankte, über 3.300 Gelähmte und 272 Tote)?  Die Gesundheitsbehörden zögerten, es herrschte Impfskepsis. In der DDR wurde schneller gehandelt.
1963 wurde endlich auch in Westdeutschland die Schluckimpfung gegen Polio zugelassen. Für viele Kinder kam diese Entscheidung zu spät. 
(Ein Blick in meinen Impfpass zeigt, dass ich Im selben Jahr als Kleinkind auf diesem Weg meinen Würfel Zucker bekommen habe.)
Eine Welt ohne Polio gibt es leider immer noch nicht, aber durch Impfungen wird diese grausame Krankheit in Schach gehalten.

Lynn Cullen: “Die Formel der Hoffnung”

Wer aber steht hinter der Entwicklung dieser Impfstoffe? Zauberten die Amerikaner Jonas Salk und Albert Sabin ihre jeweiligen Entdeckungen einfach aus dem Hut? Wie oft in der Geschichte von Medizin, Kunst u.v.m. stehen Frauen dahinter, deren Namen oft genug gar nicht mehr erwähnt werden.

Wichtig im Kampf gegen Polio ist die Rolle von Dr. Dorothy Hoffmann, deren Name hierzulande fast unbekannt ist. Deshalb bin ich froh, dass die Autorin Lynn Cullen sich der Geschichte um diese starke, bahnbrechende Frau angenommen hat, um ihr Leben und Werk wieder der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Denn Geschichten dieser Art sind leider in der Literatur immer noch unterrepräsentiert. Schaut man sich imaktuellen wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Leben um,  haben gerade diese Frauen es leider immer noch sehr schwer, wie Dorothy zu ihrer Zeit.

Lynn Cullen verfasst mit „Die Formel der Hoffnung“ (Orig. „The Woman with the Cure“) betont einen historischen fiktionalen Roman. Dieser basiert auf dem wahren Hintergrund der Entwicklung des Impfstoffes und des Lebens der amerikanischen Wissenschaftlerin Dorothy Horstmann.

Die fast vergessene Frau hinter der Polio-Impfung

Bevor ich dieses Buch gelesen habe, war auch mir der Name Dr.  Dorothy Horstmann nicht geläufig. Wenn man Informationen über den Polio-Impfstoff im deutschsprachigen Netz sucht, tauchen nur zwei Namen auf:  Jonas Salk und Albert Sabin. Dorothy Horstmann bleibt unerwähnt, obwohl sie wichtigste Grundlagen entdeckt hat, die die Entwicklung des Impfstoffs überhaupt erst ermöglichten. Auch in diesem Zusammenhang tauchen nur Namen von männlichen Wissenschaftlern wie z.B. Bodin auf, der Dorothys Ideen aufgegriffen hat. Währenddessen wurde Dorothy in der Weiterentwicklung ihrer Theorie in der männerdominierten Wissenschaft behindert.

Was erwartet uns in Cullens Roman? Der Zeitrahmen umfasst die 1940-1960iger Jahre. Genau in dieser Zeit verschlimmerten sich die Ausbrüche von Polio in den USA. Dorothy sieht sich herausgefordert beizutragen, den Kindern in der Zukunft das Leid einer solchen Erkrankung zu ersparen. Sie widmet ihre ganze wissenschaftliche Karriere der Suche, wie Polio entsteht und sich entwickelt. Denn es fehlt schon an dem Wissen um die Grundlagen.    

Zu ihren Forschungen gehören Reisen um die Welt zu den jeweiligen intensivsten Ausbrüchen der Krankheit.
Auffällig ist Dorothys extreme Entschlossenheit und ihre Furchtlosigkeit, denn es liegen genug Hürden auf ihrem Weg. Sie muss sozialen Widrigkeiten, Frauenfeindlichkeit, Übergriffen, beruflicher Ausgrenzung trotzen. Wie so viele Frauen vor und nach ihr wurde sie in ihrer wissenschaftlichen Meinung nicht erst genommen oder unterschätzt von ihren männlichen Kollegen und Vorgesetzten. Was musste Dorothy alles für ihren wissenschaftlichen Traum opfern, während ihren männlichen Kollegen alles geschenkt wurde: Familie, Erfolg, Ruhm

Die Autorin schenkt Dorothy eine fiktionale romantische Beziehung zu einem sehr sympathischen Mann (vermutlich gab es eine solche eh auch in ihrem Leben). Man bangt lange darum, ob es ihr gelingen wird, die Herausforderungen ihres wissenschaftlichen Berufes und die Beziehung unter einen Hut zu bringen. Ihren männlichen Kollegen wird es da viel leichter gemacht. 

Dass es wissenschaftlich ein Happy End gibt, ist ja kein Spoiler oder Geheimnis.  

Fazit

Auch wenn es sich um einen Roman handelt, so erhält man eine große Vielfalt an interessanten, gut lesbaren Informationen über Polio, seine Geschichte, die Entwicklung des Impfstoffes und die beteiligten Wissenschaftler*innen.
Bestürzend ist dabei die Schilderung der Leiden der Erkrankten. Kein Wunder, dass Dorothy so motiviert vorging.

Ich habe dieses spannende und fesselnde Stück Medizingeschichte schier verschlungen. Die dargestellten Protagonisten kann man sich gut vorstellen, da sie sehr einfühlsam geschildert werden. Auch wenn viele Personen erscheinen, verliert man nicht den Überblick. Charaktere, die nur der Fiktion entstammen, wie auch die historischen Personen sind alle im Anhang noch einmal gesondert aufgeführt.

Motivierend, inspirierend

Eindrucksvoll und sehr authentisch fand ich die Darstellung von Dorothys Haltung und Emotionen. Ihre Beharrlichkeit, die Ausdauer ihre eigenen Wünsche ihrem Ziel unterzuordnen ist bewundernswert und inspirierend

Es ist schon etwas frustrierend zu verfolgen, wie lange es dauerte, bis sie Stufe um Stufe die Leiter in einer männerdominierten Wissenschaft emporkletterte. Und das für eine Wissenschaftlerin ihrer Fähigkeiten. Wie viel schneller wäre die Entwicklung des Impfstoffes von statten gegangen, wenn Konkurrenzdenken und Sexismus nicht so vorherrschend gewesen wären…

Durch Dr. Dorothy Horstmann als Hauptcharakter werden gleich mehrere wichtige persönliche Themen in den Roman eingebracht: ihre spezielle Problematik als Tochter von Immigranten, ihre Auseinandersetzung mit der Frauenrolle in dieser Zeit, die schwierige politische und gesellschaftliche Situation in diesem Zeitraum, Gender–Ungerechtigkeiten, die Wissenschaft als männerdominierter Bereich.

Frauen im Fokus

Sehr hervorzuheben ist, dass zwar Dorothy Horstmann im Fokus des Romans steht, aber immer wieder anderen Frauen, die wichtige Rollen in der Impfstoffentwicklung spielten, Beachtung geschenkt wurde. Wie schnell werden sie vergessen: die Mütter der erkrankten Kinder, Krankenschwestern, Wissenschaftlerinnen, Ärztinnen, Assistentinnen, Statistikerinnen, auch die Ehefrauen von Wissenschaftlern.

Sehr ansprechend fand ich auch das Cover, das mich einerseits an ein Puzzle, andererseits an die vielen Facetten der dargestellten Frau erinnert.  

Eine absolute Leseempfehlung von meiner Seite!

Lynn Cullen:
Die Formel der Hoffnung
übersetzt v. Maria Poets
Fischer Verlag
452 Seiten

  • Astridka 20. September 2023 at 8:32

    Guten Morgen, Andrea! Schön, wieder von dir zu lesen. Und dann auch noch über ein Buch, dass in mein Interessengebiet fällt. Die Fotos zu deiner Besprechung sind natürlich besonders 🥰.
    Alles Liebe!
    Astrid

  • nina wippsteerts 20. September 2023 at 8:34

    So sehr ich das Gesundheitszentrum hasste, (es gab keine Kinderärzte), so süß waren die Stück Würfelzucker. An wenigges erinnert man sich ja noch als Kind. (wahrscheinlicher ist es, dass ich dabei war, wie meine Geschwister sie bekommen haben und ich auch ein Zuckerwürfel bekam, denn ich war da wohl schon durch mit dem Part)
    Das Frauen in der Wissenschaft so untergehen, lesen wir oft Donnerstags bei Astrid und leider ist es oft heute noch so. (wie viele weibliche Nobelpreisträgerinnen im wissenschaftlichen Bereich gibt es, eher im literarischen oder humanitären)
    Danke für eine tolle Empfehlung und ganz liebe Grüße
    Nina

  • Lydia 20. September 2023 at 15:55

    Liebe Andrea,
    eine sehr interessante Buchvorstellung mit wunderbaren Fotos 😊. Ich muss gestehen, dass das Lesen deines Blogs bzw. deiner Buchempfehlungen mein Portemonnaie strapazieren 😉. Aber dafür habe ich ja als Gegenwert spannende Lesezeit. Danke dir!
    Lieben Gruß aus dem kleinen Dorf zwischen den Meeren
    Lydia

  • kleiner-staudengarten 20. September 2023 at 20:40

    Das Buch hört sich unbedingt lesenswert an und könnte meine beiden Mediziner auch interessieren.
    Vielen Dank für die Vorstellung und die wunderbare Bebilderung…so süß auch das letzte Foto.
    Lieben Gruß von Marita

  • mano 22. September 2023 at 6:02

    sehr spannend! wie man bei astrid ja fast jeden donnerstag lesen kann, ist die geschichte von dr. dorothy hoffmann ja kein einzelfall! danke für die ausführlichen infos über das buch und die bezaubernden fotos dazu!
    liebe grüße von mano

  • Pia 24. September 2023 at 10:18

    Na, bei euch wird ja regelrecht um das spannende Buch gezerrt! Das werden sicher einmal Leseratten werden!
    Ja was es bedeutet mit Kinderlähmung zu leben, erlebe ich bei einer sehr guten Freundin. Sie kämpft schon ihr ganzes Leben mit ihren Einschränkungen und klagt nie. Dabei hätte man ihr das alles ersparen können, mit einem einzigen getränkten Würfelzucker!!!
    L G Pia

  • C Stern 24. September 2023 at 13:43

    Biografische Romane über Menschen, die Großes vollbracht und / oder schlimmste Zeiten unter uns unvorstellbaren Mühen, Schmähungen und Notlagen überlebt haben, lese ich mit aufrichtigem Interesse. Manchmal fallen darunter auch Biografien, die ein Leben beschreiben, das im Kampf gegen Hass und Gewalt ein jähes Ende gefunden hat.
    Das besprochene Buch ist bereits auf meine Leseliste gewandert, nicht nur, weil es eine mutig entschlossene Frau begleitet, sondern auch, weil viele Themen immer noch präsent sind. Wir finden gegenwärtig noch viele Vorurteile gegen Frauen in so ziemlich allen Berufen und erstaunlicherweise auch im kulturellen Umfeld: Viele Orchester haben sich in den letzten Jahren nur zögerlich einer Aufnahme von Frauen geöffnet, erfolgreiche Dirigentinnen sind ebenso noch Ausnahmeerscheinungen. Mit Sicherheit hat all das nicht nur damit zu tun, dass viele Männer, die Aufnahmegespräche führen und Entscheidungen treffen, Frauen gewisse (intellektuelle) Leistungen nicht zutrauen – es hat auch damit zu tun, dass bestimmte Berufe kaum mit einem intakten Familienleben vereinbar sind. Und da verzichten dann eher Frauen als Männer auf große Chancen.
    Unsere Gesellschaft wird sich nur dann weiterentwickeln, wenn Offenheit und gleiche Chancen ehrlich gelebt und nicht nur mit schönen Worten verkauft werden. Dazu bedarf es auch, dem Sexismus in vielen Bereichen des Lebens nachhaltig die rote Karte zu zeigen.
    Liebe Grüße, C Stern

  • Karin Be 1. Oktober 2023 at 10:07

    Was Kinderlähmung mit einem Menschen anstellen kann erlebte ich als Kind in der Nachbarschaft. Ein Spielkamerad war betroffen. Inklusion war damals extrem selten, doch im Netzwerk durch die Nachbarn gelang ein fast normaler Kindergarten- und Schulbesuch. Außerhalb davon war Ausgrenzung. Nicht ohne Grund war „Leben mit einer Behinderung“ Teil meiner pädagogischen Abschlussarbeit. Später konnte ich mit meiner eigenen Tochter erfahren, wie schwierig es nach wie vor war, mit einer Behinderung in der Gesellschaft teilzuhaben.
    Bei mir wird und wurde geimpft.
    Beruflich habe ich Jahre gebraucht, bis ich mit meinem „Männerfach“ die Anerkennung fand, die mir zustand.
    Mir geht da gerade wieder ein Zitat von Lucy Stone durch den Kopf, den mano kürzlich in einem Blogpost erwähnte.
    Liebe Grüße,
    Karin