Man muss gar nicht weit gehen, um berührende und bewegende Lebensgeschichten zu finden, die es verdienen, aufgeschrieben zu werden. Der Journalist und Schriftsteller Henning Sußebach beweist dies mit diesem zwar schmalen, aber umso spannenderen Buch. Mich hat die Lebensgeschichte von Anna lange beschäftigt, so dass ich Euch diesen Buchtipp sehr ans Herz legen möchte.
Henning Sußebach: Anna Oder: Was von einem Leben bleibt.
Die Geschichte meiner Urgroßmutter
Ein Landschaftsbild auf dem Cover möchte uns ins Sauerland führen. Das passt: land- und forstwirtschaftlich geprägt bis heute, weit und naturnah. Die Leserschaft ist gleich verortet.
„Die Geschichte meiner Urgroßmutter.“ Hört sich der Untertitel etwas verstaubt und langweilig an? Eigentlich macht er eher ein bisschen neugierig, denn er verspricht persönliche Bindung und Informationen sowie das Eintauchen in eine politisch und sozial bewegte Zeit. Man überlegt kurz, was man eigentlich selber von seinen Urgroßmüttern weiß. War die eigene Familie ortsfest, bestehen noch Chancen, dass man über Kenntnisse oder Informationsquellen verfügt. Wirbelten Krieg, Verfolgung, Flucht und Vertreibung die Familiengeschichte durcheinander, wird es schwieriger.
Der Journalist und Autor dieses Buches Henning Sußebach sammelte Informationen in der eigenen Großfamilie, durchforstete mit Hilfe von Fachleuten Kirchenbücher, Katastereinträge und unzählige Archive. Was er aus dieser Suche gewann, ist „was von einem Leben bleibt“ – dem Leben seiner Urgroßmutter Anna.

Gegen das Vergessen
„Jeder Mensch stirbt zweimal.“
S. 7
Mit dem ersten Satz des Erzählers konfrontiert uns Sußebach gleich mit seiner ungewöhnlichen Erzählform. Denn wir finden uns hier weder in einem Roman oder einer üblichen Frauenbiografie wieder, aber auch nicht in einer einfachen zeitgeschichtlichen Darstellung.
Der Autor führt mit uns Leser*innen ein Zwiegespräch, mal philosophisch, mal unterhaltsam und immer möglichst nah am Leben seiner Hauptperson.
Hochgradig geschickt, spannend und sehr informativ gelingt es ihm, das Leben von Anna mit den Daten und Fakten der Zeitgeschichte zu verflechten. Immer ist man auf Höhe der damaligen Zeit, wenn man Annas Spuren folgt. Doch im Zentrum des Geschehens steht immer die Gegenwart Annas.
Eine Frau mit vielen Facetten
Anna hat keine bekannte oder außergewöhnliche Biographie, aber ihr Werdegang als Frau aus einfachen Verhältnissen ist für die Zeit der Jahrhundertwende bis 1933 schon relativ modern. Als blutjunge Lehrerin kommt sie ins sauerländische Cobbenrode. Als Zugewanderte („Neigschmeckte“ sagt man hier im Badischen, „Expat“ überzeichnet der Autor mal bewusst auf Neudeutsch) muss sie sich in einen schwierigen Dialekt, eine festgefügte Dorfgemeinschaft, berufliche Hierarchien und die neue Lehrerinnenrolle einarbeiten. Das Leben hält eine Vielzahl von knallharten Herausforderungen, furchtbaren Verlusten, schwerwiegenden Entscheidungen, großen Verantwortungen, einigen Freuden und vor allem sehr viel Arbeit für sie bereit. Anna entwickelt sich zu einer starken Persönlichkeit, die sich auch gegen die Konventionen ihrer Zeit vehement hinwegzusetzen weiß.

Der Blickwinkel der Nachgeborenen
Mit einigen Fotos seiner Urgroßmutter gelingt es dem Autor, seine Schilderungen zu verdeutlichen.
Sußebach lässt seine Leser*innen sehr intensiv daran teilnehmen, wie er sich dem Menschen Anna nähert: sehr behutsam, sorgfältig ihre Gebundenheit an ihre Zeit betrachtend, Möglichkeiten und Unwägbarkeiten einbeziehend. Er lässt uns ganz intensiv in den Erzählprozess mit all seinen Problemen eintauchen. Dabei wird unser Bewerten der Vergangenheit als Nachgeborene ganz bewusst hinterfragt.
Immer wieder gibt uns Sußebach am Rande Sätze mit auf dem Weg, die eine große philosophische Tiefe aufweisen, wenn man weiter über sie nachsinnt. Das Buch umfasst nur 203 Seiten, aber was es uns mitgibt an Wahrheiten und Einsichten lässt sich in Seitenzahlen gar nicht messen. Das Frauenschicksal und die vielen philosophischen und zeitgeschichtlichen Gedanken haben mich sehr berührt und gehen noch länger nach.

Ich bedanke mit beim C.H. Beck -Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.
Henning Sußebach:
Anna Oder: Was von einem Leben bleibt.
Die Geschichte meiner Urgroßmutter
Verlag C.H.Beck Juli 2025
205 Seiten
1 Kommentar
Vielen vielen Dank für die Besprechung! Ja, das Bild vorne könnte wirklich aus dem Haverland sein, ein etwas lieblicherer Gebirgszug. Ich komm nämlich um die Ecke her und dort sind wir viel gewandert und spazieren gegangen.
Da würde mich das Buch natürlich ganz besonders interessieren! Und ich kenne noch mindestens ne Handvoll mehr möglicher Leser*innen. Denn es muss nicht immer das Große, Besondere sein. Die Lebensgeschichten meiner Urgroßmütter und Omas war auch unglaublich und spannend! Gerade für Frauen waren diese Zeiten auch im konservativen Sauerland durchaus von Umbrüchen geprägt und starke Frauen haben viel zusammengehalten und geleistet.
Wo’ vie mo kieken“ — Woll’n mal sehe
Liebe Grüße
Nina