Mit dem Roman eines asiatischen Autors, den ich Euch heute vorstellen möchte, habe ich mich in eine Region der Welt begeben, die mir bislang in Kultur und Historie eher fremd war. Sich auf eine solche Geschichte einzulassen, die einen auf ein komplett unbekanntes Terrain führt, macht neugierig und hält so viele Überraschungen bereit.
Ich wurde von diesem so spannenden und interessanten Roman absolut überwältigt. Sicher werde ich ihn ein zweites Mal, mit wieder neuem Wissen und wachen Augen lesen. Und unbedingt möchte ich ein weiteres Buch dieses Autors lesen.
Sorry, dass die Rezension so lang geworden ist, aber mich hat die Begeisterung mitgerissen…
Tan Twan Eng: “Das Haus der Türen”
Der Autor Tan Twan Eng wurde in Penang/ Malaysia geboren. Dort wo der größte Teil der Handlung seines dritten Romans stattfindet. Er ist mehrsprachig und von „Straits-chinesischer“ Herkunft. Ein Begriff, der im Roman öfter auftaucht und wichtig für den Inhalt ist (deshalb fehlt mir in diesem Buch ein ausführliches Glossar. Dazu mehr am Ende der Rezension).
Die Insel Penang – Schauplatz
Die Insel Penang (wie auch z.B. Singapur) gehörte von 1826 bis 1946 zu den britischen Kronkolonien in Südostasien an der Straße von Malakka. Die „Straits Settlements”-frei übersetzt „Niederlassungen an der Meeresstraße“ – wurden nach dem zweiten Weltkrieg aufgelöst. Seit 1963 gehört Penang zu Malaysia.
In die Straits Settlements und die benachbarten Föderierten Malaiische Staaten waren in der Kolonialzeit eine große Anzahl Chinesen und andere Asiaten als Arbeitskräfte ins Land geholt worden. Gerade in den britischen Kolonien bildete eine sehr kleine Gruppe europäischer Expats die Oberschicht. Dieses Hintergrundwissen ist nicht überflüssig, denn Rassismus, Klasseneinteilungen, kulturelle Kontraste und Ressentiments werden im Roman ebenfalls thematisiert.
Der Plot
Im Zentrum des Romans steht die Freundschaft zwischen dem berühmten englischen Schriftsteller William Somerset Maugham und einem fiktionalen britischen Expat-Paar Hamlyn: dem Juristen Robert und der in Penang geborenen Lesley.
Doch die Rahmenhandlung führt uns zunächst ins Jahr 1947. Seit 7 Jahren ist Lesley verwitwet, lebt auf einer einsamen Schaffarm in Südafrika. Wegen der angeschlagenen Gesundheit ihres Mannes Robert sind sie 1922 von der malaiischen Insel Penang hierher gezogen, nur wenige Monate nach dem Besuch des britischen Schriftstellers William Somerset Maugham in ihrem Haus in Penang. Als ihr nun die Post eine signierte ältere Ausgabe von Maughams Buch „Der Kasuarinenbaum („The Casuarina Tree“) bringt, beginnen ihre Erinnerungen an diese Tage schier zu sprühen.Die Geschichte wird nun aber nicht nur aus ihrer Sicht erzählt, sondern auch aus Maughams zur Zeit seines Besuches 1921, der ihm das Material für den Erzählband „The Casuarina Tree“ geschenkt hat.
Tan Twan Eng schwingt von 1947, um dann zwischen 1910 und 1921 zu pendeln. Die Erzählperspektive wechselt von Lesley Hamlyn als Ich-Erzählerin und Maugham in der dritten Person.
Die literarische Reise
Maugham, von Freunden „Willie“ gerufen, macht auf seiner großen Asienreise 1921 mit seinem Luxus liebenden “Sekretär” (und Lover) Gerald Haxton Station bei den Hamlyns in Penang. Auf der Suche nach Inspirationen für neue Kurzgeschichten wird gerade die freundschaftliche Beziehung zu Lesley zu einer wichtigen Informationsquelle. Da sein Freund Robert meist anderweitig beschäftigt ist, wird dessen Ehefrau Lesley zu seiner zentralen Gesprächspartnerin.
Sie liefert ihm die Grundlage für die erschütternde Geschichte eines Mordes, der zehn Jahre zuvor von Ethel Proudlock begangen wurde. In dem Roman ist diese eine Freundin von Lesley Hamlyn. Lesley erzählt auch von ihren Verbindungen zu den frühen Kämpfen um die Chinesische Revolution. Sie kennt Sun Yat-Sen, der diese anführte, persönlich. Genau von dieser Stelle aus führt sie auch eine Verbindung in ein Haus mit vielen Türen.

Vor Augen geführt
Durch seine exakte Ortskenntnis fasziniert der Autor durch seine eindrücklichen Darstellungen der Schauplätze. Man nimmt das Surrounding so direkt und intensiv wahr: die exotische Gerüche, den Geräuschhintergrund, das oft drückende Wetter, die prachtvolle Pflanzenwelt, die engen und verschmutzten Straßen, die Armen, die die wohlhabenden Europäer in ihren komfortablen Villen bedienen.
Auch auf historischem Terrain führt er uns ein in die Geheimnisse und den Mythos, der die Gemeinschaft der Ex-Pats in den beiden ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts umgibt. Es ist so spannend, wie Eng wichtige Stränge asiatischer Geschichte in die Erzählung einflicht. Ganz nebenbei baut er elegant die Geschichte der Kolonisation dieser Gegend ein.
„Anstatt zu antworten, schritt Robert weiter in den Friedhof hinein und deutete im Vorbeigehen mit seinem Stock auf die Grabsteine rechts und links. „Siedler, Muskatpflanzer, Missionare, Seeleute, Soldaten, Händler, Spitzbuben,“ sagte er. „Hier lässt sich die Historie der Insel nachverfolgen.“
S. 225
So weitet man den Horizont seiner Leser…
Erzählweise
Die Erzählweise und poetische Sprache Tan Twan Engs sind ein wahrer Genuss. Rasch wird klar, dass dieser ein Fan des Schriftstellers Maugham sein muss. Zum einen merkt man dies daran, wie lebendig Maugham in diesem Roman wirkt, zu anderen leiht er sich auch Motive und Charaktere aus, die Maugham in seinem Erzählband benutzte. So z.B. aus Maughams Short Story „The Letter“, der den Mordfall Proudlock schildert, das Motiv eines Briefes, geschrieben wie auch bewusst ungeschrieben.
Seine Geschichte überrascht immer wieder durch seinen ganz besonderen sorgfältig konzipierten Handlungsentwurf. Sorgsam wurde Schicht auf Schicht aufgebaut, die man erst langsam, aber voller Staunen durchschaut. Die Hintergründe wie auch die Charaktere sind lebendig und authentisch, weil auch der Ton der Bewohner*innen jener Zeit sehr gut getroffen wird.
Viele Plot-Twists lassen die Geschichte nie langweilig werden. Der Autor arbeitet immer wieder mit Motiven und Andeutungen, die man anders deuten kann und erst im Rückblick verknüpft, Bedeutungen von bestimmten Begegnungen erkennt man manchmal erst im weiteren Handlungsverlauf.
Die großen gesellschaftlichen Themen sind auch heute teilweise (leider) immer noch hochaktuell: Rassismus, Vorurteile, Stellung der Frau in der Gesellschaft und Ächtung kulturell gemischter Beziehungen, Homosexualität, Imperialismus. Kolonialismus war Normalität, Ehebruch war genauso ein Skandal wie Mord. Die Idee eine demokratische Regierung in China aufzubauen jenseits aller Vorstellungsmöglichkeiten.
Faszinierende Charaktere
Die Gruppe der wichtigsten Charaktere ist überschaubar. Sie kämpfen mit Lebenslügen, müssen neue Beziehungen aufbauen und werden mit einer Welt konfrontiert, die sich immer schneller ändert (1910-1947!). Die gut gezeichneten Charaktere testen die Grenzen dessen aus, was noch als „normal“ gilt und gehen drüber hinaus.
Die wichtigsten Charaktere sind Lesley und „Willie“ Maugham. Da die Geschichte abwechselnd aus ihren Blickwinkeln erzählt wird, hat man den Vorzug, dass sie sich teilweise auch gegenseitig charakterisieren.
Für Lesley Hamlyn bedeutet Penang Geburtsheimat, von der sie sich nicht trennen will. Sie spricht neben Englisch mehrere asiatische Sprachen. Durch ihre Bekanntschaft mit dem chinesischen Revolutionär Sun Yat-Sen weiß sie einiges über China. Sie erzählt Willie vom Aufwachsen in Penang, wo jeder die Geheimnisse des andren kennt. Obwohl Robert sie vor Maugham gewarnt hat, fließen persönliche Geschichten nur so aus Lesley heraus. Dabei ist ihr das Risiko bewusst, dass ihre Ehe durch Maughams literarische Verwendung zerstört werden könnte.
Während zwischen Lesley und Robert spätestens nach dessen Affäre das Schweigen herrscht – das …
„große schwere Schweigen, das mit der Zeit Schicht für Schicht gewachsen war und sich verhärtet hatte wie ein Korallenriff, nur dass ein Korallenriff etwas Lebendiges war.“
S. 294
….führt sie mit Maugham recht intime Gespräche, z.B. über seine Homosexualität. Zwischen ihnen besteht rasch eine emotionale Beziehung und Vertrauensbasis.
Lesley ist eine sehr gefühlsstarke, mutige Frau, die sich auch nicht scheut, Sun Yat-Sen wegen seiner Polygamie zur Rede zu stellen.

Über „Willie“ Somerset Maugham erfahren wir viel aus seiner persönlichen Sicht: Kindheit, seine Arbeit als Mediziner im ersten Weltkrieg, wo er seinen meist recht ausgelassenen Geliebten Gerald kennenlernte, seine Hochzeit mit Syrie. Hier wird seine Bekanntschaft mit dem fiktiven Robert Hamlyn eingeflochten. Wir werden in Maughams Probleme als homosexueller Schriftsteller, der in eine unglückliche fingierte Ehe gefangen ist, eingeweiht.
Die Wochen in Penang sind zentral für Maugham, denn seine vorherige steile Karriere erfährt einen möglicherweise folgenreichen finanziellen Einbruch. So steht er unter hohem Druck, wieder einen Bestseller zu schreiben. Kenntnisreich schenkt uns Tan Twan Eng die Möglichkeit, spannende Einblicke in Willies kreativen Schreibprozess zu erhaschen. Maugham gerät in eine Schreibkrise, denn für ihn müssen die Geschichten danach verlangen, aufgeschrieben zu werden.
Das Geheimnis guter Geschichten
„Auf Reisen kann ich mich immer ein bisschen… verändern, und ich bin nie ganz…derselbe bei meiner Rückkehr.“
S. 290
Das Geheimnis gute Geschichten zu finden hat der Autor Maugham einem örtlichen Reporter erzählen lassen: man muss viel umher reisen und das Vertrauen der Leute zu gewinnen:
“Ein Mensch ist eher bereit, sich zu öffnen, nachdem man ihm etwas … Persönliches, etwas Blamables über sich offenbart hat. […] Wenn Ihnen jemand etwas anvertrauen soll, müssen Sie ihm zuerst ein Bröckchen ihres eigenen Lebens geben.”
S. 180
Aber das ist dann nur ein Köder.
So zeigt der mit dem Stammeln kämpfende homosexuelle Schriftsteller Maugham Lesley seine nichtöffentlichen schwachen Seiten. Sie missbilligt zwar seine Lebensweise, sympathisiert aber mit seiner Misere. Vertrauensvoll lässt sie ihn aus ihren persönlichsten Informationen und Erinnerungen schöpfen. Willie gibt aber in seinen Erzählungen nie etwas von sich selber preis.
Vieles was die Menschen der Region ihm während seiner Reisen anvertrauten, floß in seinen Erzählband „The Casuarina Tree“ (1926) ein, der wieder Geld einbrachte. Empörung erntete er allerdings von den Leuten, da er recht nah an den Realitäten die koloniale Gesellschaft bloßgestellt hatte. In Penang und den Federated Malay States galt er danach als „persona non grata“.
Der Proudlock Skandal
Lesley Hamlyn erzählt Maugham ausführlich über ihre Freundin Ethel Proudlock, die wegen Mordes angeklagt ist. Dieser Skandal fand tatsächlich statt:
1911 nahm Ethel Proudlock den Revolver ihres Mannes und erschoss einen unangekündigten Besucher, von dem sie vorgab, sich belästigt und bedroht gefühlt zu haben. Der Proudlock Skandal bildet die Grundlage der Kurzgeschichte „The Letter“ in dem Maugham schonungslos die realen Vorfälle nachzeichnete. Es wurde eine von seinen bekanntesten Stories und später auch verfilmt.
Blättert man durch die anderen Erzählungen Maughams in diesem Buch, fällt auf, dass in einer sogar der Name Hamlyn auftaucht. Ein schöner Aufhänger für Tan Twan Eng
Eine zweite non-fiktive Person im Buch ist der chinesische Revolutionär Sun Yat-sen. Er taucht in Lesleys Berichten aus dem Jahr 1910 auf. Er träumt davon, das chinesische Kaiserreich durch eine Republik zu ersetzen. Er ist auch der Ankerpunkt einer politischen und sozialen Geschichte. Hier beginnt auch Lesleys Reise zur Selbstermächtigung.

Das geheimnisvolle maurische Symbol
Besonders gefallen hat mir, wie feinsinnig Tan Twan Eng Motive aufgreift und miteinander verwebt. Beispiel für ein solches Motiv Maughams, das er benutzt und an bedeutender Stelle in diesem Roman einsetzt, ist das maurische Symbol, das Maughams Vater auf die Fenster des Familienhauses platziert hatte, um es vor dem Bösen zu schützen. Maugham ließ es auf den Titelseiten von den meisten seiner Bücher drucken. Lesley fragt im Roman Maugham hoffnungsvoll, ob es ihm geholfen hat. Der Schriftsteller bejaht nach einigem Nachsinnen.
„Vielleicht hatte ihn das Symbol seines Vaters , der Kolophon, den er in jedes Buch setzen ließ, wirklich vor Schaden bewahrt.“
S. 325
Das Haus der vielen Türen
Ein grandioses Bild ist auch das Haus der vielen Türen selber, das dem Buch den Titel schenkt. Der überraschende Entwurf dieses Hauses und die ganz besondere Bedeutung sind sehr berührend.
„Langsam drehten sich die Türen in der Luft wie im leichten Wind um sich selbst trudelnde Blätter, endlos fallend, nie die Erde berührend!“
S. 211
Mich hat dieser Roman über kulturelle Unterschiede, Erinnerung, Verlust und Hoffnung sehr berührt.
Kleine Kritik
Nach dieser Lobeshymne über diesen wunderbaren Roman möchte ich mich allerdings mit einer bescheidenen kritischen Äußerung an den deutschen Verlag wenden. Dass dieses Buch im asiatischen und englischen Sprachraum ohne Glossar und einführendes Vorwort auskommt, ist anzunehmen. Aber für die deutsche Ausgabe hätte ich mir dies doch sehr gewünscht. So überlässt man es der Leserschaft mit dem Smartphone neben der Lektüre, nachzuforschen und zu googlen. Denn neben Erläuterungen zu Ausdrücken aus der malaiischen und chinesischen Kultur, wären ein paar Infos zu dem Schauplatz auch nett gewesen. Das Lesen wäre flüssiger und die Begeisterung noch viel größer. Immerhin, meine forschende Neugier wurde belohnt und hat den Lesegenuss ungemein gesteigert.
Resümee: mich hat das Buch begeistert und berührt. Ich kann es nur empfehlen.
Ich bedanke mit beim Dumont -Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.
Tan Twan Eng:
Das Haus der Türen
Übersetzt v. Michaela Grabinger
Verlag Dumont, April 2025
352 Seiten
2 Kommentare
Das möchte ich auch unbedingt lesen, nach deiner Besprechung noch mal mehr 🙂 Ganz liebe Grüße, Sabine
Macht neugierig, aber da ich mich für diesen Kulturraum ( über die Duras hinaus ) nie wirklich interessiert habe, stünde ich auch vor großen Informationslücken. Da wäre ein Glossar wirklich nützlich. Literarisch bin ich eher im jap.-koreanischen Milieu zu Hause, was mir immer wieder beim Lesen Freude bringt. Zu Maugham habe ich keine Verbindung, nur zu seiner Ehefrau, die schon lange auf meiner “Great-Women-Liste” steht…
Danke für deine immer wieder animierenden Buchbesprechungen.
LG
Astrid