Tut mir leid, dass diese Rezension wieder etwas länger ist. Ich kann sie auch gerne sehr kurz in zwei Worte fassen: Unbedingt lesen!
Aber mich hat beim Schreiben die Begeisterung etwas mitgerissen. Ich habe in der Vergangenheit bereits die beiden ersten Bücher von Dimitrij Kapitelman gelesen und sehr gemocht. Aber sein neuester Roman ist wirklich was Besonders. Gleich das Cover ist schon ein echter Hingucker und mehrdeutig, wie auch der Titel. Doch dafür müsst ihr bis zum Ende durchhalten.
Dimitrij Kapitelman: “Russische Spezialitäten”
Dimitrij Kapitelman fasst in seinem Roman familiäre wie auch sehr aktuelle und große politische Themen an. Denn der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, rechtsextremistische Verhältnisse im Osten Deutschlands und die Identitätssuche in migrantisch gefärbten Familien bewegen das Land und reißen auch in Familien tiefe Gräben.
Diese schwierigen Themen gelassen, leicht und sogar mit Sprachwitz zu erzählen, beweist schon ein großes Maß an schriftstellerischem Können. Dabei ist Dimitrij Kapitelmans Muttersprache nicht Deutsch, sondern Russisch. Und gerade seine Liebe zu seiner Muttersprache ist ein weiteres zentrales Thema dieses Buches.
Das Магазин
Die kleine Familie Kapitelmann kommt 1994 als „jüdische Kontigentflüchtlinge“ aus der Ukraine nach Deutschland. Da ist der in Kyjiw geborene Sohn Dimitrij acht Jahre alt. Sein Vater Leonid ist eigentlich Mathematiker, kam aber in der Sowjetunion als Jude beruflich im wissenschaftlichen Bereich nicht weit. In Leipzig eröffnet er das Магазин (dt. Magazin), einen kleinen Laden mit ukrainischen und russischen Spezialitäten.
Im ersten Teil des Buches wird die Geschichte der Familie in lebhaften kleinen Episoden erzählt, immer wieder mit Zeitsprüngen. So erleben wir die Eröffnung des Ladens in Leipzig und wie Onkel Jakob über das Parkett Linoleum legt und mit Leim überklebt (Wir werden Jakob noch mal wieder treffen). Mit wechselnder Elternbegleitung sehen wir Dimitrij nach Kyjiw fahren, um Nachschub an Spezialitäten für den “Magazin” zu besorgen. Wir lernen Kunden, Freunde und Bekannte kennen. Die Darstellung wird mit Humor, Wortwitzen und Absurditäten des Alltags gewürzt.
Das Магазин schenkt der Familie ein spärliches Einkommen. Noch wichtiger scheint es, dass es ihnen einen Ort der Sicherheit und Wärme bietet in einer Außenwelt rechtsextremer Bedrohungen. Manchmal scheint das Magazin wie ein sentimentales, nostalgisches Paralleluniversum. Kunden sind meist Exil-Osteuropäer – liebevoll „Nashi“ genannt (auch im ukrainischen наші, frei übersetzt „die Unsrigen“) – und Ostdeutsche mit Neigung zu DDR-Nostalgie.
Der russische Überfall auf die Ukraine beendet dies endgültig. Mit dem unrentabel gewordenen Magazin geht diese Zeit unter.
Familiäre Front
Eng verwoben sind für Dimitrij die Liebe zur Mutter, die Liebe zur Muttersprache und die Liebe zu seiner Geburtsstadt Kyjiw. Doch hier erleben wir eine zunehmende Entfremdung. Früher konnte die Mutter dem Sohn noch bildliche „Sterne vom Himmel pflücken“, doch nun hockt sie kettenrauchend, manchmal noch üppig und “kyjiw-kompatibel” geschminkt vor dem Bildschirm und saugt Kreml-Propaganda aus dem russischen Fernsehsender.
Dabei verbindet sie, die in Moldawien geboren ist und in Kyjiw heiratete, außer der russischen Sprache gar nichts mit dem russischen Staat. Trotzdem lauscht und glaubt sie selbst den krudesten Propagandainhalten und Geschichtsverdrehungen Putins, die die Wahrheit fälschen und so verführerisch einfache Erklärungen anbieten, warum sie immer Recht haben und von der Welt verkannt werden. Ohne Faktencheck werden alle Narrative eingesaugt.
Da Dimitrij sehr an seiner Geburtsheimat hängt, wehrt er sich gegen diese Lügen. Der Konflikt zwischen Mutter und Sohn, die sich eigentlich sehr lieben, ist sehr schmerzhaft für die gesamte Familie. Angriffskrieg, Autoritarismus und Propaganda beginnen die Familie zu spalten
Diese familiäre Zerrissenheit, die Wahrheitsfälschung, die Suche nach der Zugehörigkeit in den Zeiten des Krieges sind große Motive der Erzählung.
Sprache als Geisel
Doch auch Dimitrijs geliebte Muttersprache wird politisch vereinnahmt. Er will nicht von ihr lassen, ringt um sie. Sprache ist eben nicht nur ein Mittel, um miteinander zu kommunizieren. Sie stiftet auch Identität. Doch sein Verhältnis zu ihr ist zunehmend belastet. Er findet, dass die Sprache nicht Eigentum des Kreml-Regimes ist, auch wenn gerade sie immer als Kriegsgrund aufgeführt wird. So wird auch das Verhältnis zur Sprache zu einer Art politischer Emanzipation.
„Seit diesem Krieg weiß ich überhaupt nicht, was Sprache eigentlich ist. Was sie soll. Was sie ist. Ob sie gehört, wem sie gehört, wohin sie gehört. Wie sehr Sprache der Zeit hörig ist.“
S. 9
Dass Kapitelman ein Mensch der Sprache ist, zeigt sein spielerischer Umgang mit der deutschen Sprache. Ja, während des Erzählprozesses spielt er frech und kreativ mit allen Sprachen: der Deutschen, Russischen und auch Ukrainischen. Er kreiert neue Wörter und arbeitet mit vielen Sprachbildern.
“Ein kleiner, für immer mutter-sprachlich verängstigter Teil von mir freut sich darüber, auf Anhieb das richtige russische Wort für russische Radikalisierung gefunden zu haben. Sich etwas anatmen bedeutet, dumme Dinge in den Kopf zu nehmen und sich zu verändern.”
S. 130
Im zweiten Teil des Buches macht sich Dimitrij auf den Weg in die kriegsgeschundene Ukraine und hofft mit dieser Reise das Weltbild der Mutter verändern zu können.

Kriegsfront
In Kyjiw trifft er alte Freunde, erlebt den von Ängsten geprägten Alltag der Menschen vor Ort und ihre Gedanken. Die Erlebnisse färben die Erzählweise und zeigen ein sehr realistisches, extrem bewegendes Bild einer Stadt im Krieg. Nach Lachen und Wortwitz ist einem nicht mehr zumute. Während Dimitrij bei Luftalarm im Bunker sitzt, fragt seine Mutter per Handy nur nach Salo, dem geschätzten ukrainischen Speck. Der Sohn fährt nach Butscha und Borodjanka, erlebt berührende und verstörende Begegnungen.
Natürlich verständigt er sich In der Ukraine nur mit Russisch: Niemand stört sich daran. Doch die Menschen haben nun einen Widerwillen, die Sprache der Täter zu benutzen oder an die Kinder weiterzugeben, ein Ergebnis des Krieges.
Der zweite Teil des Buches hätte nach meinem Geschmack gern noch länger sein dürfen. Doch nicht nur der Blick in die Ukraine ist bedeutsam. Auch wie sich das Leben dieser ukrainisch-moldawisch-jüdischen Familie in Ostdeutschland gestaltet, ist hochaktuell.
Die innerdeutsche Front
Denn das Leben der Kapitelmans und ihrer Nachbarn mit Migrationshintergrund wird stark von den Neo-Nazis beeinflusst. Auch wenn Dimitrij den netten Rentner trifft, mit dem man sich austauschen könnte „was seitdem alles schieflaufe und wofür er eben nicht auf die Straße gegangen sei 1989.“ S. 96
Während die russische Propaganda gern Nazis in der Ukraine verortet, wird der Rechtsextremismus in Ostdeutschland gepflegt. Ihre Parteiplakate hängen überall.
„Dreißig Jahre Deutschland, kein Jahr ohne Hakenkreuze.“
S. 182
Menschen mit Migrationshintergrund leben hier gefährlich. Auch wenn man wie der Autor mittlerweile nur noch einen deutschen Pass führt, ist es schwer, Deutschland unter diesen politischen Bedingungen als Heimat zu empfinden. Das kann man als Leser sehr gut nachvollziehen.
Invasion und Krieg auf der einen Seite, Hass und Hetze auf der anderen Seite, zugedröhnt von Propaganda – so wird die Suche nach der persönlichen Identität zu einem Lauf durch ein Minenfeld.
Berührend erzählt
Trotz allem erzählt Kapitelman mit einem sehr persönlichen Stil empathisch, liebevoll, poetisch, und mit freundlichem Sarkasmus gewürzt. Mit Ironie, Sprachwitz, humorvollem Surrealismus fängt er die oft bizarre Realität ein. Im zweiten Teil schwingt verständlich die leise Trauer und Verzweiflung mit.
Mich haben die vielen Bilder beeindruckt, die er entwirft, und die einem noch lange nachgehen. So wie Onkel Jakob, der sich erst mit der Entsorgung des sowjetischen Leims befreien kann.
„Das ist sowjetisch-russischer Leim, der löst sich nicht. Was er einmal hatte, lässt er nicht mehr los!“ – „Der Leim ist nicht Putin, Onkel Jakob“, feixe ich.
S. 99
Am Ende ging mir so nach, dass der Titel des Buches vordergründig auf die Spezialitäten des Ladens anspielt. Aber wenn ich mir die Motive des Romans und die Sprachkunst so anschaue, könnte der Titel auch eine Anspielung auf eine weitere grausame russische Spezialität sein, andere Völker mit Krieg und Genozid zu überziehen.
Hier ist dem Autor ein sehr persönliches, berührendes und wichtiges Buch gelungen.
Ich bedanke mit beim Hanser -Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.
Dimitrij Kapitelman:
Russische Spezialitäten
Hanser Verlag, Februar 2025
192 Seiten
1 Kommentar
Puh. Berührend und doch gerade deswegen harter Tobac. Bücher und Filme, die mit Humor daher kommen und einem dann das Lachen im Halse stecken bleibt. Realität eben
Liebe Grüße
Nina