Dieser Roman machte mich sehr neugierig, weil er ein gerade sehr aktuelles politisches Thema anschneidet. Die größten Autokraten der Gegenwart sind Meister der Fake-News, der “alternativen Wahrheiten”, des Umschreibens und der Fälschung der Zeitgeschichte, des Erfindens imperialer Narrative und des Zerstörens von Erinnerungen.
Von daher ist es sehr mutig, diese Thematik in einen Fantasy-Roman einzubinden.
Hayley Gelfuso: “Das Buch der verlorenen Stunden“
Kaum schlägt man diesen Roman auf, wird man in einen fast gespenstischen, faszinierenden Ort versetzt: Der „Zeitraum“, der Raum zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wo alles als Erinnerung verweilt, was auf der Erde passiert ist. Man kann ihn sich vorstellen als eine Art Bibliothek gefüllt mit Büchern, die die Erinnerungen der Verstorbenen in sich tragen. Anfangs, als Zeit kaum mehr als eine Idee war, kamen ganz besondere Menschen nur mit konzentrierter Willenskraft in diesen mystischen Ort. Später hatten nur Zeithüter mit speziellen Uhren Zugang. Diese Uhren und die damit verbundenen Aufgaben wurden von Vater zu Sohn weitergegeben.
Fluchtraum außerhalb der Zeit
Die 11jährige Lisavet Levy ist Tochter eines solchen Uhrmachers in Nürnberg. Es ist die Reichsprogromnacht, als das Mädchen mit Hilfe ihres Vaters Zuflucht im Zeitraum findet. Ihr Vater Ezekiel hat Uhren für Zeithüter hergestellt wie schon Generationen seiner Vorfahren. Sein Laden wird in dieser Nacht von Nazihorden gestürmt. Da er sich weigert, Uhren für dieses Regime herzustellen, ist es für ihn für die Flucht zu spät. Lisavet ist somit im Zeitraum gerettet, aber auch für viele Jahre gefangen.
Außerhalb der Zeit wächst sie dort ohne physische Bedürfnisse zwischen den Büchern und Geistern auf. Die Welt außerhalb kann sie nur durch die Erinnerungen der Vergangenen sehen. Sie lernt, zwischen den erinnerten Zeiten zu wandeln.
Im Laufe der Zeit sind die speziellen Uhren der Zeithüter meist in die Hände von Regierungen übergegangen. Lisavet realisiert, dass Spione der Regierungen (zunächst Nazis, dann russische und amerikanische) den Zeitraum betreten und ausgewählte Erinnerungsbücher zerstören, um ihre jeweilige Version der Geschichte durchzusetzen. Schockiert versucht sie, die Reste zu retten und in ihrem eigenen Erinnerungsbuch zu bewahren. Damit mischt sie sich in gefährliche Angelegenheiten ein und ist Leuten und Geheimdiensten im Weg. Ihr bedeutungsschweres und wichtiges Buch der Erinnerungen trägt sie stets bei sich. Es wird ein Objekt der Begehrlichkeit für andere.
Zeithüter
Schließlich trifft Lisavet 1949, mittlerweile eine blutjunge Erwachsene, auf den amerikanischen CIA-Agenten Ernest Duquesne. Er bietet ihr Einblicke in die Welt, die sie verlassen hat, an. Lisavets Weg nimmt eine dramatische Wendung, der auch den Zeitraum verändern wird.
Die Rahmengeschichte des Romans ist sehr spannend und hochaktuell. Was die Autorin den Amerikaner Ernest über die Spione im Zeitraum sagen lässt, ist leider nur zu wahr:
„Staatliche Stellen möchten gern steuern, woran sich im Zeitraum erinnert wird. Mitunter zerstören sie dabei Dinge, die sie für gefährlich halten. Sie verbrennen Erinnerungen.“ S. 138
„Geschichte wird von den Siegern geschrieben.“ S. 126
Lisavet hält das zerstörerische Verhalten der Spione für „imperialistisch“ S. 103 und weiß, dass Erinnerungen, das Wertvollste sind, was wir besitzen. Keiner hat das Recht sie zu zerstören.
Vernichtung von Erinnerungen
Die Erklärungen der Regierungen dafür sind fadenscheinig. Offiziell soll dies der Verhinderung von Kriegen oder Ausbreitung des Kommunismus/Kapitalismus (je nachdem ob Amerikaner oder Russen) dienen. Damit das Narrativ im Einklang mit ihrer Ideologie steht, werden Menschen und Erinnerungen ausgelöscht und somit die Wahrheit. Da bekommt selbst Spion Ernest Zweifel.
Nicht nur Autokratien möchten unliebsame Historie und Tatsachen zu gern umschreiben. Staatschefs setzen heute ganz bewusst Fake-News und „alternative Fakten“ in die Welt oder drehen jahrhundertealte Geschichte um, damit sie ihren imperialistischen Bestrebungen in den Kram passen. Sie brauchen gar nicht so eine Uhr eines Zeithüters, sie löschen schon längst Erinnerungen aus. Die Autorin Gefuso möchte durch ihre Metaphern des „Zeitraumes“ und der Zeithüter darauf aufmerksam machen.
Wendungen und Veränderungen
Die Hauptcharaktere Lisavet und Ernest waren am Anfang sehr einnehmend, machen später unerwartete Wandlungen durch. Aber im weiteren Verlauf mochte ich Lisavet zunehmend weniger. Ihre Entscheidungen werden immer fragwürdiger und widersprechen dem, weswegen ich sie anfangs schätzte. Die Art, wie sie allmählich die Oberhand gewinnt und moralische Bedenken beiseiteschiebt, hat mich teilweise sehr verstört. Für mich war diese Entwicklung nicht nachvollziehbar.
Gefusions Erzählweise ist ein wenig herausfordernd. Verschiedene Zeitebenen und Handlungsstränge werden kapitelweise verflochten: Zum einen das Dasein Lisavets im sogenannten „Zeitraum“ und die Gegenwartsebene in Boston des Jahres 1965. Der Plot pendelt somit immer vor- und rückwärts mit wechselnden Charakteren, Vor- und Rückverweisungen im Handlungsstrom.
Zum einen bietet der Plot eine lebhafte Fantasyebene mit vielen politischen und philosophischen Anspielungen, die man erst mal verarbeiten möchte. Dazu kommt dann die Anlehnung an einen teils gewalttätigen und verworrenen Spionagethriller, in der die CIA und der Kalte Krieg eine Rolle spielen.

FAZIT
Die Rahmenhandlung fand ich faszinierend, sehr aktuell und wichtig. Die Fragen, wie Geschichte und Zeitgeschehen erinnert wird, wie Zensur und Geschichtsfälschung durchgeführt wird, wie man Erinnerung und geschichtliche Wahrheit retten kann, sind sehr spannend. Dieser Teil des Romans mahnt uns, dass wir auch Zeit(be)hüter sein sollten, um die Vergangenheit und die daraus folgenden Lehren zu schützen und zu bewahren.
Schließlich hat die Autorin versucht, eine dramatische Romanze, einen Spionagethriller, ein Coming-of-Age und eine Widerstandsgeschichte miteinander zu verweben. Um am Ende alle Handlungsstränge zu einem guten Abschluss zu führen, ist die eigentliche Botschaft des Buches für mich persönlich leider fast verloren gegangen.
Wer eine Mischung aus Magie, Agententhriller und Liebesgeschichte schätzt, bekommt hier das volle Paket. Allein für die vielen Denkanstöße und die Idee der Rettung der Zeitgeschichte ist der Roman durchaus lesenswert. Denn am Ende bewegt einen vor allem die Frage: Wer bestimmt, woran wir uns erinnern? Wie können wir die Wahrheit schützen?
(Leider konnte ich Euch nicht das aufwändige Cover des gerade erschienen Romans im Bild zeigen, weil mir nur ein vereinfachtes Leseexemplar zur Verfügung stand. Schade.)
Ich bedanke mich beim dtv-Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.
Hayley Gelfuso:
Das Buch der verlorenen Stunden
Übersetzt v. C. Blume und J. Plassmann
dtv Verlag, November 2025
480 Seiten


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