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Liebe, Verlust und Mutterschaft {Buchtipp}

20. Mai 2025

Heute bringe ich Euch ein oft recht trauriges und nachdenkliches Buch mit. Aber es ist geprägt von einer umfassenden Liebe, von großen Frauenthemen. Ich kann Euch dieses Debüt sehr ans Herz legen.

Siân Hughes: Perlen

Marianne ist 8 Jahre alt, als ihre Mutter von einem Moment auf den anderen verschwindet. Mutter Margret hinterlässt ein glückliches Heim, das Baby Joe in seiner Wiege, die Tochter, ihren liebevollen Ehemann Edward, das marode aber gemütliche Landhaus, wo sie Gemüse und Kräuter zieht, Brot bäckt, strickt, Naturmythen nachhängt, begeistert alte englische Balladen und Geschichten erzählt.

Jahrzehnte später holt Marianne, nun selbst Mutter, den Tod ihrer Mutter Margret und die darauffolgenden Jahre der Trauer in die Erinnerung zurück und schreibt sie nieder. Was ist damals geschehen?

Mysteriöses Verschwinden

Auf der Suche nach der Vermissten findet man nichts weiter als einen Abdruck ihres Fußes am naheliegenden schlammigen Ufer des Flusses, denn sie hat das Haus spontan ohne Schuhe verlassen. Doch warum?

Von nun an hat der Ehemann und Vater Edward, ein Hochschulprofessor, die Erziehung und Betreuung treusorgend übernehmen. Marianne erzählt im Rückblick von ihrem Aufwachsen in dieser Krise. Irgendwann muss die verbliebende Restfamilie das geliebte alte Haus verlassen, um näher an den Arbeitsplatz des Vaters zu ziehen – ein weiterer schmerzhafter Abschied.

Anhaltender Kummer

Einen Elternteil plötzlich und früh zu verlieren, ist niederschmetternd, aber wenn es auf so mysteriöse Art geschieht, verstärkt es dem Kummer auf lange Zeit. Das Verschwinden der Mutter hat Marianne am Boden zerstört. Als eine Sozialarbeiterin sie als das Mädchen, das kürzlich ihre Mutter verloren hätte, bezeichnet, hat Marianne das Gefühl, versagt zu haben. So als wäre die Mutter ihr aus Sorglosigkeit entglitten oder als hätte sie sie irgendwo im Garten vergessen. Es fügt sich ein Empfinden der Mitschuld der Trauer hinzu.

Der frühe Verlust ihrer Mutter prägt Mariannes weiteres Leben dauerhaft. Sie führt uns durch ihre Kindheit, die problematische Zeit als Teenager. Sie entzieht sich dem Schulbesuch, wie auch der vom Vater organisierter Unterstützung.  Sie gerät in  missbrauchende Beziehungen, kämpft mit Selbstverletzungen und Essstörungen. Die Gedanken an ihre Mutter sind nie fern.

„Obwohl  die Vergangenheit wie Blätterteig ineinandergefältelt ist und meine Mutter besser als jeder andere Mensch verstehen würde, wie ich von ihren vielen Schichten umschlossen bin und keinen Weg hinaus finden kann.“

S.56

Mosaik der Erinnerung

Je älter sie wird, muss Marianne sich mühen, um aus einem Reigen fragmentierter Erinnerungen das Bild ihrer Mutter zusammen zu setzen. Oft übermannen sie die verschiedenen  Versionen  ihrer Erinnerung der Zeit, die sie zusammen verbracht hatten: die Geschichten, die Bücher, die sie gelesen hatten, so auch das mittelalterliche Gedicht “Pearl”.

Dieses bietet Marianne eine Spur, der sie folgt. Auch Trost kann sie daraus ziehen, denn die Mutter hinterließ (vielleicht noch im Studium) viele Notizen am Seitenrand. Daran, dass es auch dem Roman den Titel und einige Motive schenkte, erkennt man seine Bedeutung.

Ein mittelalterliches Kleinod

„Pearl“ ist ein mittelenglisches Gedicht aus dem späten vierzehnten Jahrhundert. Es befindet sich in einem Manuskript zusammen mit drei weiteren Gedichten. Eines davon – Sir Gawain und der Grüne Ritter – taucht auch noch im vorliegenden Roman auf.  Aufgrund seines Inhaltes rechnet man es der Artusliteratur zu.  Der unbekannte Autor wird oft als  “der Perlendichter” bezeichnet.
Man muss diese mittelalterlichen Gedichte natürlich nicht kennen, um den Roman zu verstehen. Aber es ist schon interessant, wenn man erfährt, dass die mittelalterliche Schrift „Pearl“ als außergewöhnlich in der englischen Literaturgeschichte gilt und über Liebe, Verlust, Trauer, Glaube, aber auch von Selbstmordgedanken erzählt. 

Poetisch

Die reiche und starke Bildersprache dieses Romans wird auch von dieser mittelalterlichen Geschichte inspiriert. Spontan habe ich da den wilden Garten, das charaktervolle alte Haus, den fast mystischen Fluss, die verlorenen Perlen u.v.m. vor Augen.

Die Sprache ist sehr poetisch und sensibel. Mariannes Gefühle werden klar, berührend und sehr authentisch erzählt. Man erlebt, dass sie mit ihrem Körper in den Jahren gealtert ist, aber Herz und Geist sind noch immer in dem Momentum des Verlustes der Mutter gefangen geblieben. Sehr einfühlsam wird so das Trauma dargestellt, das die Trauernden von der Welt isoliert.

Spurensuche

Falls sich dies nach einer düsteren, deprimierenden Geschichte anhören sollte, dann trifft das nicht zu. Der Roman kann auf verschiedene Weisen erlebt werden: als eine Geschichte von Trauer und Heilung, eine Spurensuche eines mysteriösen Verschwindens, als zeitgenössischer Spiegel einer mittelalterlichen Konstellation, aber vor allem eine Geschichte, die von Liebe durchzogen ist. 

Bedeutende Themen werden angesprochen: Mutterschaft, Wochenbettpsychose, Depression, Verlust, Kummer und therapeutische Kunst.

Kummer steht stets den liebevollen Erinnerungen gegenüber. Berührt hat mich auch der Charakter von Mariannes Vater Edward und die Geschichte dieses Elternpaares.

Licht und Trost

Gebrochen wird die traurige Seite an jedem Kapitelanfang durch Nonsense- und Nursery Rhymes, die, weil sie durch ihre Sprachspiele einfach unübersetzbar sind, im Englischen belassen worden sind. Vielleicht klingt durch sie auch das „unbändige Lachen“ von Mariannes Mutter in das Leben der erwachsenen Tochter.

Eine berührende Geschichte, das Licht, Trost und Verständnis vermittelt. Absolut lesenswert!

Ich bedanke mit beim Dumont -Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.

Siân Hughes:
Perlen
übersetzt von Tanja Handels
Dumont Verlag, Mai 2025
272 Seiten

1 Kommentar

  • Reply Astridka 20. Mai 2025 at 12:51

    Vom Thema her wäre das ein Buch für mich. Aber ich habe immer wieder Angst, mich dem Trauern anderer auszusetzen, denn das geht dann auch immer tief und verknüpft sich mit den vorhandenen Gefühlen. Ich setze es aber mal auf meine Liste. Danke für diese und deine anderen Buchempfehlungen! Sind mir inzwischen wieder alle willkommen.
    LG
    Astrid

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