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Carr: Ein Monat auf dem Land [Bücher]

31. Januar 2017

Ein neu erschienenes Buch pro Monat vorzustellen, hatte ich ja versprochen. Leider liegt “meine” Januar-Neuerscheinung erst ab heute in den Buchhandlungen. Und SO schnell kann ich dann auch wieder nicht lesen…

Dafür habe ich hier eine Neuentdeckung auf dem Tisch: ein schmales Bändchen , das im Sommer letzten Jahres zum ersten Mal in deutscher Sprache aufgelegt wurde, aber in der englischen Literatur schon lange zu den modernen Klassikern gehört.

J. L. Carr schrieb “A month in the country” bereits 1979. Das Werk wurde ein Bestseller in Großbritannien und gelangte 1980 auf die Short List für den Booker Prize.
1987 wurde das Buch mit Colin Firth, Natasha Richardson und Kenneth Branagh verfilmt. Ich hab bei You*tube mal reingeschaut, aber schnell wieder weggeclickt. Nach dem Lesen hatte ich eine so feste Vorstellung, wie die Protagonisten auszusehen haben, die ich mir nicht zerstören lassen möchte. (Kennt Ihr sowas auch? Direkt nach dem Lesen mag ich das meist nicht leiden.)

Joseph Lloyd Carr: Ein Monat auf dem Land

Carr schreibt seine Novelle aus der Perspektive eines Mannes, der sich an eine kurze Phase seines Lebens erinnert, seit der bereits viele Jahrzehnte vergangen sind. Die Weisheit und Erfahrungen des Alters liegen wie ein feiner Schleier darüber.

An einem verregneten Sommertag des Jahres 1920 kommt Tom Birkin, ein junger Londoner, Mitte zwanzig, ziemlich abgerissen und nahezu mittellos am Bahnhof des kleinen Ortes Oxgodby in Yorkshire an. Die Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg hat ihn traumatisiert und sichtbar gezeichnet, eine Gesichtshälfte zuckt unkontrollierbar, schnell gerät er ins Stottern. Er reist allein an, seine Frau hat ihn wegen eines anderen verlassen. Erstmals tritt er nun seinen Job als selbstständiger Restaurator an.

Sein Ziel in Oxgodby ist die alte Dorfkirche.
Eine alte Dame hat nach ihrem Tod der Kirchengemeinde ein Summe Geldes hinterlassen, unter zwei listigen Bedingungen. Eine davon lautet, dass ein mittelalterliches Wandbild, das sie  unter einem weißen Kalkauftrag einer Innenwand der Kirche vermutete, freigelegt wird. Diese Aufgabe soll nun Tom Birkin übernehmen.
Vom wenig begeisterten und recht abweisend wirkenden Pfarrer ertrotzt er sich als Übernachtungsmöglichkeit ein kärgliches, aber kostenfreies Kämmerchen  im Glockenturm.
Doch Birkin ist zufrieden, von der Ruhe des verschlafenen, ländlichen Ortes erhofft er sich Gesundung von all den inneren und äußeren Verletzungen der letzten Jahre.
Bald macht er Bekanntschaft mit einem weiteren jungen Kriegsveteran. Unweit der Kirche unternimmt der archäologisch ambitionierte Charles Moon Grabungen , auch im Auftrag der alten Dame. Jeder von beiden legt auf seine eigene Art historische und persönliche Geschichte frei.

Birkin befindet sich in einer Umbruchszeit, sowohl persönlich, als auch historisch. Er selber hat die Grausamkeit des Krieges überlebt und einen Teil der Hölle gesehen. Das ländliche Idyll in Yorkshire mit den Pferdekutschen, den Strohhüten, dem Gefühl, dass alles möglich ist, wird es bald so nicht mehr geben, das weiß er schließlich als alt gewordener Erzähler.

Rasch schwingt sich Tom Birkin in den Rhythmus des Dorfes ein, wird von den Dorfbewohnern freundlich, offen und an ihm interessiert in ihren Kreis aufgenommen. Er kann loslassen, Leichtigkeit und Heiterkeit erfahren, noch nie Getanes ausprobieren und wieder Zugang zu ganz zarten Gefühlen finden.

In seine Tätigkeit als Restaurator wächst er zunehmend besser hinein.
Wie Birkin vermutet hat, verbirgt sich unter der übertünchten Wand das Bildnis des jüngsten Gerichts. Schicht für Schicht legt er nicht nur den Putz ab, sondern nähert sich ebenso dem mittelalterlichen Künstler, seiner Arbeitstechnik und seiner Geschichte, und letztendlich auch sich selber. Liebevoll, sehr aufmerksam und mit fast detektivischem Scharfsinn gibt er sich seiner Arbeit hin.

“Das war kein Christus aus dem Katalog, unerträglich blass und ätherisch. Das hier war ein frostiger Vertreter der harten Linie. Gerechtigkeit ja, Gerechtigkeit würde er erteilen. Aber keine Gnade. Das sprach aus jedem seiner Züge, und als ich am Ende der Woche bei seiner erhobenen rechten Hand angelangt war, sah ich, dass dies keine geheilte Hand war, sondern eine noch immer durchstoßene.
Das hier war der Oxgodby-Christus, unnachgiebig … nein, mehr noch – bedrohlich. ‘Seht meine Hand. Das habt ihr mir angetan. Und deswegen sollen zahlreiche von euch Qualen erleiden, so, wie ich sie erlitten habe.’
Moon erkannte das auf Anhieb. ‘Mmmm’, murmelte er, ‘also ich möchte nicht auf der Anklagebank sitzen, wenn er der Richter ist. […]'”

Die Zeit in Oxgodby schenkt Heilung von den Wunden der Vergangenheit.
Doch neben der Darstellung der Freude ist es jene, der tiefen Spur, die in der Erinnerung hinterlassen wird, wenn eine Chance auf Glück flüchtig erblickt, aber nicht ergriffen wurde.
Es ist eine zarte Liebesgeschichte, die dort zwischen den Seiten liegt:

” ‘Hier nehmen sie.’ Sie reichte mir eine Blüte […] Diese Rose, Sara von Fleet… Ich habe sie noch immer. Zwischen zwei Buchseiten gepresst […] Eines Tages, auf einem Flohmarkt, wird ein Fremder sie finden und sich über sie wundern.”

Die Zeit mäandriert ruhig und gelassen durch Oxgodby, und die Sprache übernimmt genau ihren Gang, in aller Ruhe, eleganter Schönheit und großer Sensibilität.

Ich bin froh, dass ich mir für das Lesen Zeit genommen habe, um die Sprache und Bildkraft auszukosten.
Ihr werdet vielleicht lachen, aber nachdem ich die Staffeln von Downton Abbey geschaut habe  und mit dieser Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sehr vertraut geworden war, hatte ich ganz Oxgodby und Tom Birkin sofort vor Augen.

Von mir gibt es eine Leseempfehlung.

J.L. Carr: Ein Monat auf dem Land, erschienen bei Dumont.
(Keine Werbung, ich bezahle meine Bücher selber…)

  • Centi 31. Januar 2017 at 6:55

    Klingt gut! Danke für den Tipp. 🙂

  • Karen Heyer 31. Januar 2017 at 9:31

    Du bist wohl auch solch eine Leseratte wie ich 🙂 Den Film habe ich nicht gesehen, das Buch könnte was für mich sein! Danke fürs Vorstellen. LG Karen

  • mano 31. Januar 2017 at 10:30

    das buch sieht schon von außen so schön aus. ich würde es gern in die hand nehmen. und dann lesen.
    danke für den tipp. auch wenn ich "downtown abbey" noch nie gesehen habe!
    liebe grüße
    mano

    • Andrea_B 31. Januar 2017 at 10:45

      Liebe Mano, ich glaube Du schaffst es auch ohne die Serie, in die zwanziger Jahre in Yorkshire einzutauchen. 😉 Ich hab halt keinen Fernseher, da bleiben dann solche Sachen viel länger hängen…
      Liebe Grüße
      Andrea

  • Magdalena 31. Januar 2017 at 13:48

    Ich glaube, das kommt auf meine Liste. Das Problem mit den Verfilmungen kenne ich auch. Man hat schließlich auch einen eigenen Kopf.
    LG
    Magdalena

  • Nicole/Frau Frieda 31. Januar 2017 at 13:58

    Liebe Andrea, vielen lieben Dank für den schönen Buchtipp. Da ich ein großerer Fan von "Downtown Abbey" bin, scheint mir Deine Empfehlung genau die Richtige für mich zu sein. Obwohl ich nur Deine Rezension gelesen habe, erscheint ein Mr. Birkin schon vor meinem inneren Auge.. lächel! Hab' einen feinen Tag, Nicole

  • Astrid (ach_gott) 31. Januar 2017 at 16:10

    Liebe Andrea,
    Danke für den Tipp – gekauft!

    Viele Grüße
    Astrid

  • Judika 1. Februar 2017 at 19:03

    Liebe Andrea,
    auch ich habe seit einem Jahr keinen Fernseher.
    Das Büchlein sieht aus wie ein Handschmeichler.
    herzlich Margot

  • Himmel Blau 2. Februar 2017 at 8:28

    Klingt reizvoll…Seufz…hier liegt noch ein Bücherstapel von Weihnachten…ungelesen. LG Lotta.