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Wie eine eisige Insel in den Bergen {Buchtipp}

2. Dezember 2024

Den Dezember beginne ich mit einer winterlichen Geschichte. Und wenn ich “Winter” sage, dann meine ich einen echten Winter in den französischen Alpen mit meterhohem Schnee und eisigen Temperaturen. Füge ich dann als nächste Stichworte “1942/43” und “Flucht” dazu, habt Ihr bestimmt gleich ziemlich feste Vorstellungen. Die hatte ich auch. Doch die Autorin fügt einem Genre, das wir zu kennen glauben, ganz neue Dimensionen hinzu. Ein echtes Leseerlebnis!
Ach ja, und warum “eisige Insel”? Naja im Originaltitel heißt es doch “L’Île haute”.

Valentine Goby: Über allen Bergen

Dieser Roman hat mich sehr überrascht, weil meine Erwartungshaltung eine gänzlich andere war, als das, was das Buch mir am Ende schenkte.

Flucht aus Paris

Der zwölfjährige Vadim aus Paris ist väterlicherseits jüdisch-russischer Herkunft. 1942 wird die Lage für die Familie im von Nazi-Deutschland besetzten Paris äußerst gefährlich. Der russischstämmige Vater, ein Schuhmacher, hat sich mit seinen Arbeitsgeräten anfangs in die eigene Wohnung zurückgezogen, nun muss er untertauchen. Mutter Sophie flüchtet sich mit dem Sohn zu ihrer Arbeitsstelle bei der wohlsituierten Familie Dorselles. Diese besorgt dem asthmakranken Vadim eine Möglichkeit, aus der akuten Gefahrenzone zu entkommen.

Dafür wird aus Vadim kurzerhand Vincent Dorselles, so der Name des Sohnes der Familie, der im Internat lebt. Unter diesem Namen reist er Richtung französische Alpen. Vadim aka Vincent hat bislang Paris noch nie verlassen. Doch nun muss er nicht nur die große Stadt, sondern auch sämtliche Bindungen und sein altes Ich hinter sich lassen.

Die Insel in den Bergen

Auf der zunehmend winterlich werdenden Zugfahrt wird er von einer Ordensschwester begleitet. Ziel ist das letzte Dorf des Chamonix-Mont-Blanc-Tals, unweit der Schweizer Grenze. Vallorcine („Bärental“) ist eigentlich eine Ansammlung mehrerer kleiner Weiler am Fuße der Aiguilles Rouges. Das abgelegene Tal ist nur über  den Bergpass über den Col des Montets zu erreichen. Im Winter sind Straßen und Wege aufgrund der Lawinengefahr meist unpassierbar.

Vadims/ Vincents Zug sollte eigentlich durch den (damals noch recht neuen) Eisenbahntunnel zwischen Montroc und Vallorcine fahren. Doch dieser ist durch einen Lawinenabgang unpassierbar. Die Nonne atmet auf: ein Mitglied der Familie, die den Jungen aufnehmen wird, übernimmt ihn am letzten Eisenbahnhalt. Nun beginnt das Bergabenteuer des Jungen mit dem anspruchsvollen Aufstieg in das abgeschiedene Tal durch Schnee und Eis – und zu Fuß durch den Eisenbahntunnel.

„einem winzigen Tal, das zu schmal war, um im Atlas auffindbar zu sein, ….“

S. 16

Man ahnt, warum der Roman in drei große, nach Farben benannte Teile eingeteilt ist. Er startet mit „weiß“, denn im Tal hat der Winter mit Eis, Schnee und Lawinen das Regiment übernommen. Nun erleben wir, wie der Junge sich mit „Vincent“, seinem neuen Ich, arrangiert und in die familiäre und dörfliche Gemeinschaft eintaucht. Mit ihm lernen wir, wie man in vollkommener Abgeschiedenheit unter diesen harten Lebensbedingungen im Winter (über)lebt.

Die Kraft der Natur

Vom Krieg, der Verfolgung, den Gräueltaten bekommen wir hier, im Winter abgeschnitten von der Zivilisation, nichts mit. Auch wenn später das Weiß schwindet und das Grün der Natur sich die Bahn bricht, ist das Zeitgeschehen ein schwaches Hintergrundrauschen. In Vincents Welt sind vor allem die Geborgenheit in seiner Ersatzfamilie, der Zusammenhalt in der dörflichen Gemeinschaft, die atemraubende Natur der Bergwelt und die Entwicklung des Jungen wichtig. 

Drei Jahreszeiten lang, die weiße, grüne und gelbe,  dürfen wir mit Vincent in das Leben der Bergbewohner eintauchen. Fast wird Vincent einer der Ihren. Braungebrannt und kräftig lernt er mit den Tieren und den anstehenden Arbeiten auf dem Land umzugehen und teilt die Initiationsriten der Jugendlichen. Er atmet endlich wieder gesund und frei und öffnet sich ganz der Natur um ihn herum.

„Manchmal entsteht ‚Zukunft‘ erst im Nachhinein, nachdem ein Datum das Ende der Geschichte besiegelt hat. [….] Für sein erfundenes Leben als Vincent ist kein Ende vorgesehen, eine Rückkehr nach Paris steht in den Sternen, der Krieg und der Winter können hundert Jahre dauern oder tausend, und vielleicht bleibt Vincent für immer hier.“

S. 153

Fazit

Die Geschichte wird ganz aus der Sicht des Jungen Vincent/ Vadim erzählt. Der Junge nimmt seine Umwelt hochsensibel wahr, verknüpft Worte und Dinge mit Farbwahrnehmungen und verfügt über eine bemerkenswerte künstlerische Begabung. Das ist natürlich auch für uns Lesende ein besonderes Erlebnis, die Natur der Berge und ihre Bewohner durch seine Augen betrachten zu können.

Liebenswerte Charaktere

Auf jeden Fall ist dieser Roman auch eine „Coming of age“ – Erzählung, ein Entwicklungsroman. Wir haben  vor Augen, wie Vincent äußerlich, wie auch innerlich wächst und sich verändert. Sein Hineinwachsen in sein Dasein als „Vincent“ ist beeindruckend. So wird er zu einem sehr authentischen Charakter.

Die anderen Charaktere des Buches sehen wir mit Vincents Augen. Moinette, seine 10 jährige Begleiterin, hat etwas von einem kleinen Kobold. Vincent weiß zu schätzen, dass sie ihm ohne Vorbehalte  alles was er wissen musste eröffnet und geschenkt hat. Auch die anderen Charaktere werden von Vincent liebevoll dargestellt und skizziert. Die Vallorcins  wachsen einem rasch ans Herz.

Die Gefahr als drohendes Hintergrundrauschen

Die Handlung spielt 1943 mitten im 2. Weltkrieg, doch in dem Bergtal scheint die Zeit still zu stehen oder das Tal wäre wie aus der Zeit gerissen. Aber wie Vincent/ Vadim, der es in Paris hautnah erlebt hat, und die Bewohner*innen des Tales sind wir uns stets dessen bewusst, was außerhalb des Tales geschieht.

Mit dieser Bedrohungslage im Hinterkopf können wir uns dennoch wie auch der Junge auf die Schönheiten und Besonderheiten dieser wildromantischen, wunderschönen, aber auch oft bedrohlichen  Berglandschaft einlassen. Durch Vincents Augen sehen wir förmlich die eindrücklichen Panoramen, die das Tal umgeben. Wir erfahren auch die Härte des Alltags, die schon viele aus dem Tal hat flüchten lassen.

„ob vor einem, hinter einem, neben einem, überall ist es immer zu Ende.“

S. 37

Als besonders eindrücklich habe ich die Sprache empfunden: so bildhaft und poetisch, manchmal auch sehr philosophisch. Ein wirkliches Meisterwerk, aus dem Französischen perfekt ins Deutsche übersetzt. 

Ein empfehlenswertes, sehr besonderes Buch, das mich sehr positiv überrascht hat.

Ich bedanke mich beim List-Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.

Valentine Goby:
Über allen Bergen
Übersetzt v. Marlene Frucht
Verlag List, November2024
352 Seiten

2 Kommentare

  • Reply yase 2. Dezember 2024 at 12:41

    Da würde ich gerne die letzten zwei Seiten lesen. Ich mag keine Bücher, die wie das Leben nicht immer gut enden. Es hört sich sehr schön an, aber mir schwant ein schreckliches Ende….
    Dafür möchte ich kein Buch lesen. Dafür kann ich die Zeitung aufschlagen
    Herzlichst
    yase

    • Reply Andrea 2. Dezember 2024 at 12:50

      Hallo Yase,
      keine Sorge, das Buch nimmt kein schreckliches Ende. Dem Lesegenuss steht nichts entgegen.
      Liebe Grüße
      Andrea

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