Allmählich wird es Zeit, sich nach schönen Winterbüchern für sich selbst und zum Vorlesen für die Kinder umzusehen.
Heute stelle ich Euch ein Kinderbuch vor, dessen Illustrationen mich auf den ersten Blick mit ihrem ganz eigenen Stil verzaubert haben. Speziell an dem Buch, das uns in den Norden Skandinaviens führt, ist, dass Text und Illustration aus französischen Federn entstammen.
Durch mein Skandinavistikstudium lese ich Bücher mit skandinavischen Themen vermutlich mit recht kritischen Augen…
Jolan Chloé Bertrand: Die Winterschwestern
Das Cover deutet mit Glitzer und einer zauberhaften Illustration es bereits an: es wartet eine Wintergeschichte mit Rentieren auf uns.
Der Winter im hohen Norden Skandinaviens hat zwei Seiten: eine harte, raue und eisige und eine heitere, voller Freude und Schneeballschlachten. Wir finden sie hier verkörpert in den beiden Winterschwestern, die über die kalte Jahreszeit herrschen. Doch seit vielen Jahren schon gilt die freundlichere, jüngere Schwester als verschollen. Die ältere Winterschwester zeigt ihre Trauer und Wut darüber durch ein immer eisigeres und schneereicheres Regiment. Darunter haben Menschen und Tiere stark zu leiden.
Für den kleinen verwaisten Wikingerjungen Alfred aus dem Nebeldorf hat der eisige, bitterkalte Winter gerade erst begonnen. Er lebt bei seiner Großmutter Brunhilda und seinem Onkel Ragnar. Alfred wird es jedoch nicht langweilig. Der Zehnjährige lässt sich einige Kurzweil einfallen, indem er die Dorfbewohner mit allerlei derben und groben Schabernack überzieht. Sein Vorbild ist dabei der verschlagene nordische Gott Loki.
Die Bewohner des Wikingerdorfes haben neben dem harten Winter und Alfreds Streichen auch noch großen Kummer mit Diebstählen. Früher haben sich die Trolle damit begnügt, Brennholz zu stehlen. Nun aber werden alle möglichen Dinge gestohlen, die den Menschen am Herzen liegen und ihnen wichtig sind. Deshalb macht sich Alfreds Onkel Ragnar auf die Suche nach den Dieben und ihrer Beute hinaus in Eis, Schnee und Sturm. Alfred glaubt, ihn retten zu müssen und eilt ihm hinterdrein.
Doch Ragnar gerät in die Hände der großen Winterschwester. Derweil erlebt Alfred ein winterliches Abenteuer, um die kleine Winterschwester wiederzufinden. Vielleicht könnte sie ihm helfen, seinen Onkel zu retten. Aber die Winterschwester benötigt selber Hilfe, um sich aus einem hinterhältigen Zauber zu lösen.
Fazit
Schon auf den ersten Blick verzaubern die herrlichen Illustrationen von Chevalier Gambette. Sie lassen auf ganz eigene Art die magischen Personen und Wikingergemeinschaft lebendig werden. Auf jeden Fall bilden Gambettes Zeichnungen den Höhepunkt dieses Buches.
Magische Elemente
Das literarische Bild der beiden Winterschwestern, ihre ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten und ihre Erlebnisse gefallen mir als Hintergrund des Romans ausgesprochen. Darauf könnte man gut aufbauen.
Im Vordergrund steht die Geschichte um den kleinen Wikingerjungen Alfred. Diese vermochte es hingegen nicht wirklich, mich mitzunehmen. Die Handlung wechselt zwischen verschiedenen Ebenen: der realen, der magischen Welt und Geschehnissen oder Gesprächen in Visionen. Nicht immer war klar, auf welcher Ebene man sich gerade befindet.
Immer wieder finden sich im Verlauf der Handlung Elemente, die wirklich gut sind, neben solchen, die langatmig oder belanglos wirken.
Charaktere
Es erscheinen nur sehr wenige prägnante Charaktere. Im Zentrum steht der Wikingerjunge Alfred, der sich vor allem in groben Streichen auslebt (z.B. Ungenießbarmachen von Getränken mit Senfkörnern) und sich den bösartigen, unruhestiftenden Gott Loki als Vorbild gewählt hat. Irgendwie bin ich überhaupt nicht mit ihm warm geworden.
Sein Onkel Ragnar ist von Geburt her eine Frau. Da er sich schon immer als Mann fühlte, konnte er sich mithilfe einer Hexensalbe einen Bart wachsen lassen und gilt nun als Mann. Eigentlich berührt dies ein auch für Kinder wichtiges Thema. Aber an dieser Stelle ist es ziemlich fehl am Platze. Für die weitere Handlung ist es vollkommen unerheblich, wird nicht mehr angesprochen, wirkt somit aufgesetzt und künstlich. Schade, denn die Figur des Ragnar hätte mehr verdient.
Die weiteren Charaktere sind die beiden eindrücklichen Winterschwestern und ein Troll. Die Winterschwestern weisen einen recht rauen, herben Charakter auf. Mal ganz anders, als in anderen Wintergeschichten. Auch bei den Trollen muss man sich von alten Vorstellungen lösen, was ich aber als ganz erfrischend empfand.
Skandinavischer Hintergrund
Dass Autor*innen in fremde Kulturen eintauchen und daraus schöpfen, ist ein alter und ganz natürlicher Prozess. Das hat für mich auch absolut nichts mit „kultureller Aneignung“ zu tun, die in letzter Zeit immer mal wieder angeprangert wurde. Kultur ist immer im Austausch und lebt davon. Für mich ist aber wichtig, dass die Autor*innen dann mit Kenntnis und großem Einfühlungsvermögen vorgehen, denn sonst kann es doch zu Ungereimtheiten kommen.
Jolan Chloé Bertrand wählt hier Skandinavien als Schauplatz und greift hinein in die reiche Kultur der Wikinger, des alten Nomadenvolkes der Sami, in die skandinavische Sagenwelt und nordischen Mythologie. Wikinger und Sami nebeneinander sind etwas ungewohnt. Beide pflegten wechselseitige Beziehungen, die nicht immer konfliktfrei waren. In dieser Geschichte stehen die Welten der Wikinger und der Sami eher zusammenhanglos nebeneinander. Die Sami stehen nur als Rentierhalter.
Beim Umgang mit der nordischen Mythologie war ich ziemlich unglücklich. Ausgerechnet Loki als Vorbild für den kleinen Alfred zu nehmen, finde ich schwierig. Loki gilt als streitsüchtig und amoralisch, lügt und denunziert. Dies wird im Verlauf dieser Geschichte durch Lokis Verkörperung als Füchsin und seine bösartigen „Streiche“ angedeutet, ist aber in der dargestellten Form für Kinder dieses Alters ohne weitere Erklärungen nicht wirklich nachvollziehbar.
Ein Begriff ist mir immer wieder aufgestoßen, da er wiederholt auftaucht. „Parka“ stammt zwar etymologisch vermutlich aus dem Inuit, ist aber längst in unsere Alltagssprache übergegangen. So hat man sofort ein bestimmtes, eher modernes Kleidungsstück vor Augen. Diesen Begriff dann in einer Geschichte im Zusammenhang mit Wikingern zu lesen, fand ich doch eher befremdlich und in der geballten Häufigkeit auch als störend.
Die Gedanken über Streiche, und wann sie kein Scherz mehr sind, sondern Schaden anrichten, und über das Wesen der Traurigkeit, haben der Handlung etwas Tiefe geschenkt.
Der deutsche Untertitel „Magisches Winter-Abenteuer voller Humor“ macht mich etwas ratlos. Die Altersempfehlung würde ich tiefer als der Verlag ansetzen. Ich könnte mir es als Vorlesebuch für Grundschulkinder vorstellen.
Ich bedanke mich beim Thienemann-Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.
Jolan Chloé Bertrand:
Die Winterschwestern
Übersetzerin: Cornelia Panzacchi
Illustriert von Chevalier Gambette
Thienemann Verlag, September 2024
224 Seiten
Empfehlung des Verlags 9-12 Jahre
Schön, dass du so differenziert über das Buch schreibst. Ich selbst wäre aufgrund der Illustrationen sofort „aufgesprungen“.
GLG
Astrid
Schön hast Du dieses Buch besprochen. Ich kann nur voll und ganz zustimmen 😄
Mit lieben Grüßen
Nina
ups, da fehlt eigentlich ein Satz: Ich bin nämlich auch auf die zauberhaften Bilder “etwas “hereingefallen”, aber der Text ließ schon schnell zu wünschen übrig.