Bücher

Eine notwendige Erinnerung in diesen gefährlichen Zeiten {Buchtipp]

27. September 2024

Als ich nun eine knappe Woche mit Covid viel auf dem Sofa herumhing, hatte ich genug Zeit, ein Buch in einem Rutsch durchzulesen. Immer wieder brauchte ich Pausen, um innerlich und äußerlich zu Atmen zu kommen. Denn es tauchten viele Bilder und Fragen vor mir auf.
Was würde ich machen, wenn sich die politische Lage in Europa, die rechtsextreme Bedrohung im eigenen Land verschärft? Wie schnell das gehen kann, darf man gern aus der Geschichte entnehmen, denn unsere Geschichtsbücher gelten noch (in anderen Ländern wird die Geschichte ja schon umgeschrieben, wie es dem imperialistischen Machthaber in den Kram passt).
Es ist noch nicht sooo lange her: Meine Eltern wurde in Zeiten geboren, in denen Familien ihr elfjähriges Kind allein im Zug ins ausländische Ungewisse zu Fremden schicken mussten, um sein Leben zu retten. Keiner wusste, ob man überleben würde, um es wieder zu sehen. Schließt die Augen und stellt Euch mit Eurem Kind/ Enkel am Bahngleis oder am Flughafen vor…
Oder nehmt Euch dieses Buch zur Hand. Es ist sehr persönlich und bewegend geschrieben, geht unter die Haut und ist so wichtig heute.

Julian Borger: Suche liebevollen Menschen. Mein Vater, sieben Kinder, und ihre Flucht vor dem Holocaust

1938 war in der englischen Zeitung “The Manchester Guardian”  eine schmale Anzeige zu lesen: “I seek a kind person who will educate my intelligent Boy, aged 11”. Ähnlich lautende Anzeigen standen daneben. Wer steckte hinter diesem Gesuch? Es war die Wiener Familie Borger, die auf dem Wege ihren Sohn Robert (gerufen Bobby) vor dem Zugriff der Nazis retten wollte. Und tatsächlich, es hat gottseidank funktioniert. Mit Vermittlung des Jüdischen Netzwerkes gelangte Robert in die liebevolle Obhut von Mr and Mrs Bingley, einem Lehrerehepaar aus Nord Wales.

Es war ein längerer Weg, bis der spätere Sohn dieses elfjährigen „Bobby“, der Autor des vorgestellten Buches Julian Borger, diese und weitere Anzeigen fand. Julian Borger war früher Auslandskorrespondent, Kriegsberichterstatter und ist heute Leiter des Außenpolitik-Ressorts des »The Guardian«. 2014 wurden er und sein Team mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Er bringt also genug Erfahrungen mit, sich auf die Spuren der Vergangenheit zu begeben.

Ruth schickte mir einen kurzen, nachdenklichen Essay […] in dem sie den Holocaust Forscher Yehuda Bauer zu Wort kommen ließ, der vorgeschlagen hatte, die ursprünglichen Zehn Gebote auf Moses’ Tafeln um drei weitere zu ergänzen: “Du sollst kein Täter sein, du sollst kein Opfer sein und niemals, unter keinen Umständen, ein Zuschauer.”

S. 21

Als er 2021 diese Anzeige fand, war sein Vater längst verstorben, ohne viel über seine Kindheit gesprochen zu haben. Julian Borger begann das Leben seines Vaters zu recherchieren und stieß dabei auf viele Unterlagen und Informationen, über die er und seine Familie vorher nichts wussten. Auch das Schicksal der Kinder aus den anderen Anzeigen begann er in Zuge der Recherche zu erkunden. Gemeinsam war ihre Herkunft: Wien. Der Blick in das Wien des Jahres 1938 lässt uns erschüttern.

Wien 1938

Es gab zwei kritische Daten, die als Warnung dienten, zum einen der „Anschluss“  am 13. März 1938: Hitlers Annexion Österreichs, und zum anderen die sogenannte „Kristallnacht“, das Pogrom am 9. und 10. November 1938, als die Nazi-Horden die Fenster jüdischer Häuser in Deutschland und Österreich einwarfen, jüdische Geschäfte, Synagogen, Privathäuser plünderten und brandschanzten, Menschen verprügelten, verhafteten, verschleppten und ermordeten. Fast alle von Wiens 22 Synagogen wurden dabei niedergebrannt. Als Mensch jüdischen Glaubens auf die Straße zu gehen, war ein Spießrutenlauf und lebensgefährlich.

Bobbys Vater Leo Borger versäumte keine Zeit und gab die Anzeige für seinen Sohn am  3. August 1938 auf. Daneben stand jene von Gertrude Langer, 14 Jahre alt. Ein anderer Junge, der 16jährige Siegfried Neumann musste dies selber tun, sein Vater wurde in Dachau ermordet.

Kindertransporte

Viele verzweifelte, vorausschauende jüdische Eltern versuchten, ihre Kinder vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Diese Anzeigen waren eine Möglichkeit, um den Kindern ein Überleben in der Fremde zu sichern. Ob man sich je wiedersehen würde, war ungewiss und unwahrscheinlich. Die letzte Hoffnung waren die bekannten Kindertransporte, die 1938 bis zum Kriegsausbruch 1939 Kinder in rettende Ausland bringen konnten.

Für ihn wie für alle anderen Kinder, die aus Wien flohen, waren diese Abschiedsszenen auf dem Bahnsteig der Wendepunkt ihres Lebens: nicht nur der endgültige Abschluss ihrer Kindheit, sondern auch das Ende von Sicherheit und Gewissheit.

S. 181

Im Laufe des Buches stehen wir mit dem Autor in der Haupthalle des Wiener Westbahnhofs, von wo die Kindertransporte 1938/39 und auch die Reise von Bobby Borger begannen. Heute erinnert hier die Bronzestatue eines kleinen, ängstlichen jüdischen Jungen daran, der auf einem Koffer sitzt. Genau denselben schleppte auch der Vater des Autors durch den Bahnhof und sein späteres Leben.

Schmerzhafte Recherche

Julian Borger brauchte noch den Trigger eines beruflichen Zusammentreffens mit einer Frau, die wie er Nachkomme eines dieser geflüchteten Kinder ist, um endlich die Suche aufzunehmen. Er kann neben der Geschichte seines Vaters auch die Spuren von sieben weiteren Kindern aufgreifen. Deren schicksalhaften Reisen von Wien aus führten nicht nur ins Vereinigte Königreich, sondern auch in die  USA, nach Schanghai, auf dem Umweg über die Niederlande ins KZ.  

Der Autor  lässt uns erahnen, was es für die Eltern in jener Zeit bedeutete, sich von ihren Kindern zu trennen. Wie sie auf die britische Leserschaft hofften, den Kindern ein Überleben und eine Zukunft zu schenken. Was für ein Mut, ein Verzicht, Vertrauen und Verzweiflung. Die Kinder selber wollten natürlich nicht von ihren Eltern getrennt werden. Aber sie waren alt genug, die Demütigungen und Verfolgungen auf den Straßen zu sehen und zu begreifen, dass sie gehen mussten. Ihre Kindheit fand ein jähes Ende.  

Borger nimmt uns mit auf seine investigative Recherche, um die Lebensreisen der Kinder in ihr späteres Erwachsensein nachzuverfolgen. Glück hat er, wenn er auf Nachkommen stößt, die Auskünfte erteilen können, so dass er von der Gegenwart aus, in die Vergangenheit zurückgehen kann. Eine unerwartete Überraschung erlebt er, dass eines der gesuchten Kinder mit ihm hochbetagt über Skype noch sprechen konnte.

Meist zu Waisen geworden

Was für ein Segen, dass es hilfsbereite britische Familien gab, die Kinder aufnahmen, als Familienmitglieder oder auch als günstige Arbeitskräfte. Sie wurden gerettet, mussten aber alle Formen von Traurigkeit, Kummer und Verzweiflung durchstehen. Sie verloren nicht selten die Orientierung, als sie durch ihre neuen Leben ohne Familien und Heimat hindurch navigieren mussten. Die meisten sahen ihre Familien nie wieder und litten an Schuldgefühlen, die einzigen Geretteten zu sein. 

Borgers Familie war eher eine Ausnahme, da sich die Eltern auch noch England retten konnten, nachdem man in Wien ihnen ihre gesamte Existenz entrissen hatte. Aber jeder musste sich einzeln für sich durchschlagen, ein Zusammenleben war nicht erlaubt. Für Borgers Vater, aber auch für den Autor und seine Geschwister war die Ziehmutter Nan immer eine Bezugsperson. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie der junge Bobby vor dem Geräusch des Wasserkessels Panik bekam, weil es für ihn wie das Pfeifen der Nazis anhörte, die ihn durch die Straßen jagten. In ihrem Ziehsohn sah sie nach seinem Selbstmord „das letzte Opfer der Nazis“.

Alle Kinder, deren Spuren Julian Borger verfolgt, haben Krieg und Holocaust überlebt. Doch der spätere Suizid von Bobby Borger, der nie mit der Familie über das Erlebte sprechen konnte, offenbart noch einmal die Wunden, die diese Erfahrungen geschlagen hatten. Die generationenübergreifenden Traumata der Überlebenden und Familien zeigt der Autor ebenfalls auf. 

Fazit

Bereits das Cover ermöglicht den persönlichen Bezug zu den Menschen des Buches, denn es zeigt „Bobby“ Borger mit seinen Eltern und die rettende Anzeige.

Julian Borger schildert spannend und sehr informativ die Motive und die Vorgehensweise seiner Recherche. Nicht immer geht er dabei chronologisch vor, sondern zieht Verbindungen und Vergleiche.  Jedes Kapitel ist einer bestimmten Familie oder Kindern gewidmet. Bilder führen in den Text ein. Julian Borger versteht es, den Menschen über die er schreibt, eine Geschichte und ein Gesicht zu geben. Somit schenkt uns der Autor das Gefühl, dass wir die Menschen kennen.

Immer wieder verwebt er  Zahlen und Fakten des Holocaust, schockierende und bewegende Elemente miteinander. Seine Art zu erzählen und zu erklären lassen die Zeit, die beteiligten Menschen und das Geschehen lebendig werden. Man spürt die Angst in der Verzweiflung und Düsternis aber auch den unendlichen Mut und die Liebe.

Hochaktuell

In unseren Zeiten, in denen in Zügen aus der Ukraine flüchtende Familien mit Kindern sitzen, Zeiten, in denen die Geschehnisse der Nazizeit verdrängt, abgeleugnet und verharmlost werden, Zeiten, in denen wieder die gleichen Sprüche gegrölt und Gesten offen gezeigt werden , Zeiten, in denen Menschen bedenkenlos rechtsextreme und stalinistische Parteien wählen, sind solche Bücher dringend nötig.

Ich kann dieses spannende, bewegende, rührende, aufrüttelnde Buch nur jedem empfehlen. Es hat eine leider nur zu große Aktualität.

Julian Borger:
Suche liebevollen Menschen.

Mein Vater, sieben Kinder, und ihre Flucht vor dem Holocaust
Molden Verlag, September 2024
308 Seiten

Ich bedanke mich beim Molden-Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.


1 Kommentar

  • Reply Astridka 27. September 2024 at 10:31

    Dein Post über eine solche Erfahrung & Geschichte legt einen weiteren Schleier auf mein Gemüt heute morgen. Ich fühle mich langsam hilflos. Gegen all diese Indokrination, denen immer mehr Menschen um uns herum zum Opfer fallen, kann frau nicht mehr ankommen, fürchte ich. Dennoch sollte es solche Bücher geben, solche Erzählungen, Videos usw. Aber es müssten wohl mehr Taten folgen. Ich selbst zögere ja immer wieder, in eine Partei einzutreten, merke ich doch wie meine Energie & Tatkraft schwindet. Auch in der Bloggerszene werden die Stimmen immer leiser oder verstummen ganz…
    Dennoch herzliche Grüße an dich!
    Astrid

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