Wenn man mit nur 22 Jahren als zweiten Roman so ein bewegendes Werk vorlegt, dann wird man wohl zurecht als literarisches Talent bezeichnet. Auch mich hat dieser Roman gepackt, dass ich ihn nur zu gerne empfehle.
Nelio Biedermann: “Lázár”
Mit dem Roman „Lázár“ treffen wir auf die bewegende Chronik einer ungarischen Adelsfamilie in den Strömungswirbeln des letzten Jahrhunderts. Die speziellen Verbindungen des Autors zum Thema des Buches machen es besonders authentisch und spannend.
Die familiären Bindungen
Der junge Autor Nelio Biedermann (geb.2003) ist in der Schweiz aufgewachsen, väterlicherseits stammt seine Familie aus dem ungarischem Adel. Seine Großeltern sind nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes durch die gewaltsame sowjetische Intervention in den 1950er Jahren in die Schweiz geflohen.
Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft in Zürich und schreibt neben Studium und Nebenjob. „Lázár“, sein zweiter Roman, startet ganz groß. Er wird gleich in mehr als zwanzig Ländern erscheinen.
Für diesen Roman bietet die Geschichte seiner Familie eine Menge Inspirationen. Stammvater der österreichisch-ungarischen Adelsfamilie der Biedermann von Turony, von denen er abstammt, war übrigens der Hofjuwelier und Bankier Michael Lazar Biedermann (1769-1843), dessen Sohn Simon 1860 den Adelstitel erhielt und vererbte. Zu Zeiten der K.-u.-k-Monarchie war die Familie im Besitz von Schlössern und Ländereien. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde sie von den Kommunisten ad hoc enteignet. Es blieb ihnen nur ein Tag, um etwas mitzunehmen und ihr Zuhause zu verlassen (das Schicksal ereilt auch die fiktive Familie Lázár im Roman).
Man merkt der Geschichte an, dass sie auf einer ausführlichen Hintergrundrecherche im familiären Umkreis und vor Ort in Ungarn, mit stimmigen Daten, Begebenheiten und dargestellten Lebensumständen fußt. Die Handlung ist fiktiv, von der Realität inspiriert.
In den Strudeln der Zeitgeschichte
Die Handlung setzt kurz vor dem ersten Weltkrieg ein und führt in eine bewegte, dramatische Zeit. Mit dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie geht eine Epoche zu Ende. Die Aristokratie verliert an Bedeutung. Der Fluss der Geschichte orientiert sich an den historischen Ereignissen: zwei Weltkriege, mehreren Wechsel im politischen System von der Monarchie über Krieg und Faschismus bis zum Kommunismus.
In diesen Wirren des 20. Jahrhunderts geht auch die ungarische Adelsfamilie Lázár ihrem Niedergang entgegen. Drei Generationen der Familie lernen wir im Laufe des Buches kennen. Der Einstieg beginnt mit Geburt und Kindheit des fast ätherisch wirkenden Lajos von Lázár im abgelegenen mystischen Waldschloss. Sein Aufwachsen spiegelt die aristokratische Welt jener Zeit mit all seinen starren gesellschaftlichen Regeln. Man kann erspüren, wie die Menschen unter diesen Regeln leiden. Die Familienmitglieder leben nebeneinander her, wirken innerlich zerrissen und scheinen von der realen Welt entfremdet.

Kälte und Strenge
Die Erziehung von Lajos und seiner älteren Schwester Ilona ist streng, kalt, ohne körperliche Nähe und Zuneigung. Offensichtlich soll die frühe emotionale Abhärtung, innerer Schwäche vorbeugen. Auch die nächste Generation kann nicht von dieser Prägung genesen und gibt sie weiter.
Die Geschichte der Familie Lázár ist reich an tragischen persönlichen Ereignissen von Alkoholismus, Suizid bis zu psychischer Erkrankung, aber auch an Liebe und Affären. Alle Generationen werden durch die politischen Umwälzungen gebeutelt.
Durch die Charaktere sind wir immer sehr nahe am Zeitgeschehen, denn der Elfenbeinturm im Waldschloss wird irgendwann mit städtischen Wohnsitzen ausgetauscht. Wachsender Antisemitismus und erstarkender Faschismus wird auch in Ungarn sichtbar. Mittlerweile ist die Familie der Lázár schon ergänzt durch die nächste Generation: die Kinder István, genannt Pista, und Eva.
Faschismus – Stalinismus
Man erlebt den erwachsenen Lajos als Offizier der ungarischen Armee. Anhand seiner Position und Tätigkeit wird die ungarische Beteiligung am Holocaust sichtbar. „Lajos kümmerte sich um Organisatorisches.“ (S. 191/192/193) – Lajos ist an Ghettoisierung und Deportation von Juden beteiligt.
Die russische Armee und die ungarischen Kommunisten gestalten die Geschicke der Familie um in eine Geschichte von Vertreibung, Enteignung, Deportation, Zwangsarbeit und Flucht.

Fazit
Das Cover finde ich feinsinnig gewählt. Tatsächlich wirkt der Schimmel darauf sehr edel, aristokratisch, hochgezüchtet und feinnervig. Ein bisschen musste ich auch an die Pferdezucht in Ungarn denken (z.B. Lipizzaner). Im Buch findet das Pferd sich als Metapher des eisigen Winters als Reiter auf weißem Schimmel wieder, der die Familie im Waldschloss festbannt.
Mit der Erzählposition in der Jetztzeit breitet Biedermann seine Geschichte mit ausdrucksstarken Bildern, episch und intensiv aus. Es ist ihm dabei gelungen, Fiktion und Realität untrennbar zu überblenden. Die Authentizität ist bestechend. Die Handlung lebt von genau recherchierten zeitgenössischen Wissen (z.B. was an Mahlzeiten auf dem Tisch stand, finanzielle Details, Stimmungen), das vermutlich zusätzlich auch aus familiären Erzählungen stammt.
Die politischen Ereignisse werden immer in Zusammenhang mit der Familie dargestellt. Eine auffällige Ausnahme bildet hierbei nur das kurze Kapitel von Tod Stalins, das aus dem Fluss der Erzählung herausfällt (S.277).
Originelle Charaktere
Sehr eindrucksvoll ist die feine und psychologisch genaue Zeichnung der Charaktere, ihrer Suche nach Orientierung und ihrer inneren Konflikte. Man erlebt sie mit all ihren vielschichtigen Emotionen.
Eindrücklich finde ich beispielsweise Lajos, der seine Tätigkeit als Offizier ihm Rahmen des Holocausts vor sich selbst schönredet und vor der Familie nie anspricht. Ihm ist vollkommen klar, dass er ein feiger Opportunist ist und es keine Entschuldigung für sein Handeln gibt.
Jedem der Protagonisten wird sorgfältige Charakterisierung zuteil: ob es die empfindsam, leise leidende Mária ist, Ilona, die Meisterin des Verdrängens, der in sich selbst geflohene, geisteskranke Bruder Imre oder die seltsamen Kindheiten und späteren Identitätssuchen von Lajos und Pista sind.
Selbst der gruselige Wald um das Schloss herum scheint seine eigene Wesenheit zu besitzen.
Ein vielschichtiger Roman trifft den Nerv der Zeit
Mit der Geschichte der Familie wird ein Stück Zeitgeschichte Ungarns, ja Europas gespiegelt. Die Entwicklung der einzelnen Individuen, das Schicksal der Familie, die politischen Verwerfungen und Katastrophen machen den Roman so vielschichtig.
Vielleicht ist es das, was diesen Roman so ganz besonders eindrücklich in unserer Zeit macht. Auch wir haben das Gefühl, dass unsere als stabil empfundene Welt durch Kriege, gefährliche Ideologien und Machtverschiebungen ins Wanken und in Auflösung gerät. Außerdem hat sich in den letzten Jahren unser Blick auch wieder Richtung Osten gewandt, wo im halben letzten Jahrhundert alles durch den Eisernen Vorhang verborgen war. Es hat noch Jahrzehnte gebraucht, eine neue Perspektive, ein aufgefrischtes Wissen und emotionale Bindung zu gewinnen. Da trifft dieser Roman genau den Nerv, finde ich.
Ich bedanke mich beim Rowohlt-Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss
Nelio Biedermann:
Lázár
Rowohlt Verlag, September 2025
336 Seiten
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