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Die Rivalin Vivaldis {Buchtipp}

24. März 2025

Vermutlich sagt Euch der Name des Komponisten und Geigers Antonio Vivaldi etwas (“Die vier Jahreszeiten”). Aber habt ihr jemals etwas von seiner berühmtesten Schülerin Anna Maria della Pietà gehört? War sie seine Rivalin, hatte sie Anteil an seinem Werk?
Wieder eine “Great Woman”, deren Namen bekannter sein sollte. Um sie geht es in diesem Roman:

Harriet Constable: “Die Melodie der Lagune”

Der Titel dieses Buches mutete anfangs in meinen Ohren eher wie ein seichter Trivialroman an. Was für ein Irrtum, denn es verbirgt sich dahinter die fiktionale Bearbeitung einer sehr fesselnden historischen Frauenbiographie. Im Original trägt der Roman den Titel „The Instrumentalist“.

Harriet Constable, die hier ihr Romandebüt vorlegt, ist Journalistin  und Dokumentarfilmerin. Das Thema Musik liegt ihr, denn sie wuchs in einem sehr musikalischen Haushalt auf. Ihre Mutter ist klassische Cellistin.

Im Zentrum des Romans steht die Venezianerin Anna Maria della Pietà, in der Musikgeschichte auch bekannt als Anna Maria dal Violin.

Das Waisenmädchen Anna Maria

Venedig 1696 – eine junge Mutter, die sich prostituieren muss, um zu überleben, eilt mit ihrem Baby zu einer Aussparung in der Mauer des Waisenhauses Ospedale della Pietà, eine Art Babyklappe, für ungewollte weibliche Säuglinge gedacht. Nachdem sie bei einer Hinterhof-Hebamme entbunden hat und sich nicht überwinden konnte, das Kind im Kanal zu ertränken, wie es viele andere tun, muss sie sich nun von der Tochter trennen. Denn wenn der Säugling zu groß für diese schmale Klappe wäre und daneben läge, wäre er dem Tod geweiht.  

Als die Nonnen des Waisenhauses für Mädchen das Baby auf der anderen Mauerseite in Empfang nehmen, finden sie bei ihm auf einem Papier geschrieben: „Geh süßes Kind. Du sollst wissen, dass du geliebt wurdest“ und eine halbe Spielkarte. Die andere Hälfte behält die Mutter, wie eine letzte Verbindung.   

Alle neu aufgenommenen Säuglinge werden mit einem Brandzeichen markiert, erhalten Vornamen mit dem Anhang  “della Pietà“, werden karg und streng aufgezogen. Es erwarteten sie harte Arbeiten im Haus.

“Als Nächstes die morgendlichen Aufgaben: waschen, schrubben, nähen, bügeln, Gemüse putzen, Wasser kochen, scheuern, sauber machen. Erst nach dem Mittagsgebet haben die Mädchen frei.“

S. 25
Die Farben der Töne

Die positive Seite dieses Waisenhauses ist, dass den Mädchen eine gediegene musikalische Erziehung mitgegeben wird. Jedes Mädchen wird neben dem Gesang in mindestens einem Instrument unterrichtet. Die talentiertesten Mädchen können es ins Orchester schaffen. Die anderen  Mädchen werden verheiratet. Nicht selten sind sie Objekte der Begierde der reichen Patrone des Waisenhauses. Doch die Alternativen zu diesem Schicksal sind aufgrund der großen Armut in der Republik Venedig in der Regel noch schlimmer.

Die kleine Anna Maria wächst mit ihren beiden Lieblingsfreudinnen Agata und Paulina wie Schwestern in dieser Gemeinschaft auf. Im Laufe der Jahre lernt sie nicht nur Violine zu spielen,  sondern auch Cello, Oboe, Flöte, Mandoline, Cembalo u.a..

Anna Maria ist ein ganz besonderer Charakter. Sie erlebt das Hören von Musik als Farbwahrnehmung, ist also Synästhetikerin. Das Spielen eines Instrumentes kann für sie zum wahren Feuerwerk der Farben werden. Schon in ganz jungen Jahren erfasst sie ein großer Ehrgeiz. Das Geigenspiel möchte sie virtuos beherrschen. Sie träumt davon, als das jüngste Mitglied zum weltberühmten Orchester des Waisenhauses genannt „figlie di coro“ berufen zu werden.

Quelle:pixabay
Die Töchter des Konservatoriums

Die historischen „figlie di coro“ (dt. „Töchter des Konservatoriums“) galten in der Republik Venedig und über die Grenzen hinaus als das angesehenste Orchester. Die Mädchen des Orchesters wurden vom Maestro unterrichtet und durften in Basiliken und Palazzi spielen. So verdienten sie Geld für das Waisenhaus und wurden zudem mit Ruhm und Geschenken bedacht.  Oft spielten sie hinter einem Sichtschutz, um nur gehört und nicht gesehen zu werden, weil viele körperlich beeinträchtigt waren durch Geburtsfehler, Krankheitsfolgen (z.B. Pockennarben)  oder auch Zeichen von Brutalität und Vernachlässigung. Wieder ein Tribut an das harte Leben, das sie sonst führten.

Neben der Begeisterung für die Musik und dem Ehrgeiz ist es auch die Angst, die Anna Maria zu diesem Wunsch Orchestermitglied zu werden, antreibt.

„Musik soll wie ein Schutzschild sein.“

S. 39

Denn die Mädchen mit musikalischen Talent sind sicher vor dem Verheiraten und dem mystischen unheimlichen Rabenmann, von dem die Mädchen raunen.

Der Preis des Ruhms

Alles ändert sich in dem Moment, als  Anna Maria die Favoritin des Maestros wird. Eine besondere Rolle in der Geschichte des Ospedale della Pietà spielt nämlich sein bekanntester Musiklehrer und Maestro, der rothaarige Teufelsgeiger Antonio Vivaldi, der von 1703 bis 1715 Musikdirektor war. Das Orchester des Ospedale war sein kreatives Testfeld, Inspiration und vielleicht auch mehr.
Das Verhältnis zwischen Meister und Schülerin wird sehr ambivalent dargestellt. Anfangs ist die Haltung Vivaldis recht unbarmherzig, bald wird Anna Maria schon mit 8 Jahren seine Musterschülerin, eine Art Wunderkind. Schließlich beginnt der Lehrer seine Schülerin sozial zu isolieren, indem er ihren übergroßen Ehrgeiz negativ beeinflusst und auf sich fixiert. Zudem wird das junge Mädchen von Ruhm und Geschenken fast berauscht.

Doch die ehrgeizige, hochbegabte Anna Maria entwickelt sich persönlich wie auch musikalisch weiter. Es kommt zu einem dramatischen Wendepunkt für beide.

Fazit:

Harriet Constable ist ein vielschichtiger Roman gelungen. Als Leser*in glaubt man, das karge, aber vor Musik vibrierende Waisenhaus, die Palazzi wie auch die schmuddeligen Ecken, die Kanäle, das bunten Treiben Venedigs wie auch die brutalen Realitäten im 17. Jahrhundert zu sehen und zu hören. Sie lässt sich von realen Begebenheiten inspirieren und spinnt eine fiktionale Geschichte darum herum. Denn über die persönliche, emotionale Entwicklung der historischen Violinistin Anna Maria ist nichts bekannt. Daneben erzählt sie eine Coming-of-age Geschichte, die sehr stark geprägt ist von jugendlichem Ehrgeiz, Ängsten und der Verlockung des Ruhms.

Authentische Charaktere voller Widersprüche

Die Autorin hat den Charakteren Leben eingehaucht, zeigt ihre hellen, aber auch dunklen Seiten. Anna Maria spricht geradeheraus, ist sehr eigensinnig und überschwänglich, was es ihr in jenen Zeiten und ihrer Position nicht leicht macht. Dass die Autorin einen synästhetischen Aspekt dem großen Talent des Mädchens beifügt, erklärt deren Obsession. Sie gibt sich mit der Musik, vor allem der Geige dieser Farbenwelt hin.

Ihr Überlebenswille, Ehrgeiz, die beste Violinistin zu werden, und daraus resultierende sehr harte persönliche und soziale Entscheidungen gerade gegenüber den Freundinnen in Krisenzeiten haben sie mir zeitweise fast unsympathisch gemacht. Aber der Verlauf der Geschichte zeigt ihre Entwicklung und eine versöhnende Wendung.

Eingebettet in reale Begebenheiten

Beim Stichwort Vivaldi sind mir vorher vor allem die  “Vier Jahreszeiten” und die Violinkonzerte in den Sinn gekommen. Wie groß der Einfluss des Ensembles eines Waisenhauses auf sein Werk war, ahnte ich nicht. Allerdings kommt der Maestro in diesem Roman nicht wirklich sympathisch rüber.

Immerhin, Vivaldi widmete Anna Maria über 30 Violinkonzerte. Aber sein Verhältnis zu seinen vorpubertären Schülerinnen ist geprägt von Manipulation, Ausbeutung und Missbrauch.

Die Frauenrolle in der Musikgeschichte

Constable rückt mit der Geschichte der Anna Maria della Pietà auch einen zugleich spannenden wie auch traurigen Aspekt der Musikgeschichte ins Zentrum. Die Mädchen dieses damals europaweit bekannten Orchesters boten dem Komponisten eine Art Testfeld und „Brutkasten“ für seine Werke. Sie waren mehr als Musikantinnen, sondern nahmen aktiv teil am Schaffensprozess neuer Werke. Die jungen Mädchen probierten als Erste die neuen Stücke. Vermutlich schrieben sie Noten ab und halfen bei der Komposition. Ihr Beitrag war enorm.
Die Autorin schildert, wie auch die hochtalentierte Anna Maria eigene Kompositionsideen beiträgt.  Sie hat das große Glück, gefördert zu werden. Doch eigene Ideen und Werke werden ihr – wie anderen Frauen in der Kunst –  missgönnt, nicht zugestanden, weggenommen oder vernichtet. Eigene Kompositionen der Anna Maria della Pietà sind verschollen, wie die vieler anderer Musikerinnen.

Der Spannungsbogen der Handlung wird gut gehalten, denn Anna Marias Leben scheint oft wie ein Tanz auf einem schmalen Grat zwischen dem Ruhm auf der einen Seite und dem Abgrund auf der anderen. Das Erzähltempo nimmt gerade im letzten Viertel des Romans deutlich zu, als die persönliche Entwicklung des Mädchens und die Vorstellungen des Maestros kollidieren. Da ergeben sich unerwartete Wendungen.

Eine wunderbare Geschichte über eine historische junge Frau, die ihren Weg gegangen ist, die ich nur empfehlen kann.

Ich bedanke mit beim HarperCollins -Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.

Harriet Constable:
Die Melodie der Lagune
Übersetzt von E. Beleites
Harper Collins Verlag, Februar 2025
384 Seiten

1 Kommentar

  • Reply Astridka 24. März 2025 at 22:06

    Das in dieser Stadt, die mich bezaubert hat wie keine andere, so viel hartes bis tragisches Leben durch die Jahrhunderte gelebt werden musste, tut mir immer wieder weh. Ich glaube ich könnte von daher das Buch gar nicht lesen. Zur Zeit ist Lesen am besten, wenn Realitätsflucht.
    Die alles Liebe!
    Ast

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