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Barocker Ausflug in die Geschichte der Gerichtsmedizin {Buchtipp}

31. Oktober 2024

Also zugegeben, diese Überschrift hört sich wenig spannend an. Dabei führt uns das Buch, das ich Euch heute vorstellen möchte zu einem wegweisenden historischen Gerichtsdrama. Manchmal nimmt die Geschichte an einem ganz unerwarteten Punkt eine Wendung, wie hier. An diesem fast vergessenen Punkt, entstand die moderne Gerichtsmedizin und die Aufklärung machte sich in Deutschland auf den Weg.
Das ist das Schöne an historischen Romanen, die auf realen Fakten fußen. Man wird spannend unterhalten und lernt auch noch eine Menge.

Tore Renberg: „Die Lungenschwimmprobe. Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde“

Was für ein merkwürdiger Buchtitel: „Die Lungenschwimmprobe“. Richtig, das hört sich ziemlich medizinisch an. Diese Methode, mit der überprüft wird, ob ein Kind lebend oder tot geboren wurde, stellt den Beginn der Gerichtsmedizin dar. Mutig und nach den damals allerneusten Erkenntnissen führt im Jahr 1681der Zeitzer Stadtarzt Johannes Schreyer erstmals eine Lungenschwimmprobe an einem toten Säugling aus. Ein spektakulärer Vorgang in jener Zeit!

Diesen außergewöhnlichen Vorgang fördert der bekannte norwegische Schriftsteller Tore Renberg in den Archiven Mitteldeutschlands zu Tage, als er neugierig nach den Ursprüngen der Pathologie sucht.  Die gewonnenen historischen Fakten verwebt er mit fiktiven Elementen zu einer packenden Geschichte,

Der Fall der 15jährigen Anna Voigt

In seinem historischen Roman erzählt der Norweger nun einen Kriminalfall, der auf diesen wahren Begebenheiten beruht. Im Jahr 1681 wird die gerade erst fünfzehnjährige Gutsbesitzertochter Anna Voigt aus der Gegend um Leipzig beschuldigt, heimlich ein uneheliches Kind zur Welt gebracht, im Anschluss getötet und vergraben zu haben. Nachbarn und Gesinde waren aufmerksam geworden und haben das Kind ausgegraben und die Behörden informiert. Doch die noch recht naive Anna beharrt darauf, nichts von der Schwangerschaft gewusst zu haben. Nach ihrem Sturz sei das Kind tot zur Welt gekommen.

Man muss sich das vorstellen: Der Dreißigjährige Krieg ist 1648 zu Ende gegangen, die Folgen sind für die Bevölkerung noch zu spüren und ins Gedächtnis eingeritzt. Das Mittelalter ist ausgeklungen, Leipzig ist geprägt vom Barock und die Aufklärung steht gerade erst vor der Tür. Gesellschaft und Justiz sind hauptsächlich von der Kirche beeinflusst. Noch werden Prozesse gegen vermeintliche Hexen geführt, Folter ist Mittel der Wahrheitsfindung in den Kerkern, die Formen der Todesstrafen weisen eine große, äußerst brutale Vielfalt auf. Eine uneheliche Geburt wie bei Anna Voigt gilt als furchtbare Schande. Vergewaltigende oder missbrauchende Männer  bleiben in der Regel straffrei. Ein Kindesmord durch die verzweifelte Mutter endet in der Regel mit dem Todesurteil. Notfalls wird das Geständnis unter der Folter erzwungen. Doch Annas Fall verläuft anders als die der vielen anderen Mädchen und Frauen, denen ähnliches widerfahren ist.

Der lange Prozess der Wahrheitsfindung

Annas Vater Hans Heinrich Voigt, der zwar unbeliebt, aber nicht unvermögend ist, steht zu seiner Tochter und versucht, das schier Unmögliche zu erreichen. Er überträgt die Verteidigung an den jungen Juristen Christian Thomasius. Dessen Tätigkeit kann nun auf dieser damals spektakulären Untersuchung des Mediziners Johannes Schreyer aufbauen. Denn der Stadtarzt ist von einem Amtmann beim Fund der Kinderleiche hinzugezogen worden. Der belesene und neuen Erkenntnissen offen gegenüber stehende Schreyer hat dazu ein von einem niederländischen Mediziner entwickeltes Verfahren angewendet: Die Lungenschwimmprobe. Damit kann er beweisen, dass das Kind bereits tot zur Welt kam, und die Angeklagte demnach nicht lügt. Die Frage ist nur, ob dieses Verfahren von der Justiz anerkannt wird. Eine Verurteilung würde eine besonders grausame Hinrichtung für Anna, die ihre Unschuld beteuert, bedeuten.

Doch die Justiz lässt sich Zeit. Viel Zeit. Für einen längeren Zeitraum scheint der Prozess gegen Anna Voigt und ihre Mutter nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Stattdessen entzündet sich am Verfahren ein Konflikt zwischen dem aufmüpfigen Juristen Thomasius, seinem Vater, dem bekannten Wissenschaftler Jakob Thomasius, der Theologen-Familie Carpzov, den Vertretern der Behörden und dem Scharfrichter. Die alte Zeit ringt mit der neuen. Doch eine so lange Kerkerhaft überleben die Menschen jener Zeit meist nicht unbeschadet. Kann Anna gerettet werden. Und wenn ja: zu welchem Preis?  

Gleich beim Aufschlagen des Buches wird man bildreich in die Zeit des Barock hineingezogen

Fazit:

Aufwändige Recherchearbeit

Der in Norwegen sehr bekannte Schriftsteller Renberg hat für seinen ersten historischen Roman eine sehr gründliche, ausführliche Recherche rund um Leipzig betrieben. Da der sogenannte „Vater der deutschen Aufklärung“ Christian Thomasius sehr im Zentrum der Handlung steht, wurde er dabei von Forschenden des „Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung“ der Uni Halle (als deren Mitbegründer Thomasius gilt) unterstützt. Der Wegbereiter der deutschen Frühaufklärung  Thomasius berichtet im ersten Band seiner „Juristischen Händel“ später über diesen Prozess, so dass einiges davon heute noch nachvollziehbar ist. 

Gut, dass diese Geschichte nicht endgültig in den Archiven verstaubt ist,  denn Schreyer und Thomasius haben dafür gesorgt, dass Anna Voigts Fall in die Rechtsgeschichte und Geschichte der Forensik eingegangen ist. Um den historischen Fakten Leben einzuhauchen, hat Renberg sie mit fiktivem Geschehen gefüllt. Dadurch sind die Charaktere für uns sehr greifbar und authentisch geworden.

Geschichte wird lebendig

Der Roman ist sehr vielschichtig, da er viele Themen berührt, die bis auf den heutigen Tag noch aktuell sind: z.B. Fragen nach der Frauenrolle in der patriarchalischen Gesellschaft, Gerechtigkeit und Einfluss der Kirche auf Justiz und Gesellschaft. Man hat den Sprachduktus jener Zeit im Ohr, erfährt den Umgang der Menschen miteinander und erlebt den Einfluss des gesellschaftlichen Denkens auf den Prozess um Anna Voigt. So wird Geschichte lebendig.

Interessant ist, wie man als Leser*in auch immer wieder in den Entstehungsprozess des Romans und auch der Übersetzung mit einbezogen wird.

Die Übersetzerinnen stellen im Anhang dar, wie sich ihre Arbeit gestaltet hat. Da der Autor versucht hat, sich an der Sprache des 17. Jahrhunderts zu orientieren, musste dies angemessen ins Deutsche übertragen werden. So ist die weitschweifige Art des Juristen Thomasius seinem Charakter und der Zeit geschuldet, wie auch die Arroganz der Geistlichen und Amtspersonen. Sprachlich kann man sich in die damalige Zeit gut einfühlen, auch wenn barocke Weitschweifigkeit gelegentlich langatmig wirken kann.  

Authentische Charaktere und verschiedene Perspektiven

Die Geschichte wird nicht chronologisch erzählt. Es gibt kapitelmäßig sowohl Sprünge in der Zeit, als auch wechselnde Erzählperspektiven.  Dieser Perspektivwechsel ist sehr erhellend. So erleben wir, wie ganz unterschiedliche historisch belegte Personen das Geschehen und ihre Umwelt sehen. Ihre Sichtweisen stehen oft hart und kompromisslos gegenüber. Auch der Autor selber tritt manchen Kapiteln oder auch zwischendurch an die Lesenden heran, um Erklärungen, Deutungen, etwas über den Prozess des Schreibens beizusteuern.
Das klingt verwirrender als es ist, denn aus diesem Puzzle fügt sich bald ein beeindruckendes Bild.

Das Tempo der Erzählung ist in den einzelnen Kapiteln recht unterschiedlich. Es kommt Dichte und Spannung auf. Aber gelegentlich habe ich mir eine Straffung mancher Diskurse gewünscht, die für mich den Schwung der eigentlich fesselnden Handlung abschwächten.

Die Charaktere sind alle sehr authentisch, vor allem, weil man auch aus ihrer Sicht das Geschehen sehen kann.
Zwischen all den Stimmen steht die junge, verängstigte Anna Voigt, fast noch ein Kind,  und beharrt darauf, unschuldig zu sein. Ihre Sichtweise ist natürlich durch fehlende Quellen fiktiv, doch hätte ich mir gewünscht, noch viel mehr aus ihrer Perspektive zu lesen.

Anhang

Im Anhang befinden sich ein QR-Code und eine Internet-Quelle über die man zusätzliche Informationen über die historischen Figuren, Karten und Literaturangaben herunterladen kann. Ich persönlich hätte es viel besser gefunden, wenn diese Angaben direkt im Buch abgedruckt worden wären. So hätte ich beim Lesen direkt und einfacher darauf zurückgreifen können. Der Umfang des Buches wäre dadurch auch nicht gesprengt worden. 

Mich hat das Buch ganz tief in diese Zeit eintauchen lassen, über die ich bislang noch nicht so viel wusste. Die Mischung aus Unterhaltung, Spannung und Information empfinde ich als sehr gelungen. Wer sich für Geschichte interessiert, wird hier begeistert sein.

Tore Renberg:
Die Lungenschwimmprobe. Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde
Übersetzt von Ina Kronenberger u. Karoline Hippe
Luchterhand Verlag, Oktober 2024
704 Seiten

Ich bedanke mich beim Luchterhand-Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.

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