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Auf Spurensuche in Yorkshire {Buchtipp}

15. August 2024

Heute stelle ich Euch einen Roman vor, der uns in das landschaftlich schöne Yorkshire im Vereinigten Königreich führt. Für mich war das eine kleine Zeitreise, weil ich in genau der Zeit, in der dieses Buch spielt, dort als Austauschschülerin war.
Einer Britischen Leserschaft müsste ich jetzt nur ein paar Stichworte geben und sofort hätten sie die passenden Bilder vor Augen, für Euch muss ich ein bisschen ausholen.

Jennie Godfrey: „Unser Buch der seltsamen Dinge“

Die Autorin Jennie Godfrey ist in Yorkshire aufgewachsen. Ihre Kindheit wurde von den Ereignissen, die den Hintergrund ihres Debütromans bilden, sehr geprägt. Ich könnte mir schon vorstellen, dass sie viel von ihren eigenen Gefühlen in dem Alter der 12 jährigen Miv, der Erzählerin der Geschichte, mitgegeben hat.

Maggie, die Schulmilch-Diebin

Wir tauchen ein in das Jahr 1979 in Yorkshire, im Norden Englands. Die Konservativen haben gerade die Unterhauswahlen gewonnen.  Margaret „Maggie“ Thatcher wird  Premierministerin des Landes. “Maggie, The Milk Snatcher“ tituliert man sie, weil sie den Kindern die Schulmilch nimmt. Für die Menschen in Yorkshire sind die Zeiten nach dem Strukturwandel und der Deindustrialisierung in den 60iger und 70iger Jahren finster. Nur die alten, leer stehenden Fabrikruinen erzählen noch die Geschichte einer blühenden Textilindustrie und des Bergbaus. Die „Eiserne Lady“ Thatcher bringt nur noch mehr Armut, Arbeitslosigkeit und Abwandern der Industrie.

Das schöne Yorkshire und die Tristesse

Bislang haben die Leute in den kleinen Gemeinden die Häuser nicht abgeschlossen, die Kinder spielten vom Morgen bis zur Abenddämmerung draußen, die Nachbarn tratschten und klatschen bei einer Tasse Tee.
Wir sehen nun wie sich der Alltag auch hier verfinstert, denn es geht ein Serienmörder um. Nein, der Yorkshire Ripper, der 13 junge Frauen brutal ermordete und 7 weitere versuchte zu töten, ist leider keine Fiktion, sondern Teil der realen Hintergründe des Romans. Es ist keine Überraschung, dass die Frauen in Yorkshire sich von diesem Monster bedroht fühlen, sich als ängstlich und verletzlich empfinden, besonders, wenn sie allein oder nachts unterwegs sind. Es sind Jahre der Angst, die die Frauen und die Familien teilweise lebenslang prägen.

In dieser finsteren Atmosphäre, der Situation des Niedergangs und der Bedrohung baut die Autorin ihre Szenerie auf:  die Schule, ein Laden an der Ecke, die Kirche, die unterschiedlichen Wohngegenden, die Kulisse der verfallenen Industriegebäude.

Teeny-Tage in den Siebzigern

Ein wohltuender Kontrast ist, dass wir daneben auch ein bisschen nostalgisch in das Leben am Ende der 70iger Jahre aufgefangen werden. Die Kinder spielen noch sehr frei und unkontrolliert, für Teenager ist die „Röhrenjeans“ das Must-have, die beiden Protagonistinnen gehen gerade über von der Zeit mit der Holly-Hobbie-Puppe zum ersten Glitzer-Lipgloss. 

In dieser Umgebung wächst also die Hauptperson der Geschichte auf: die 12jährige Mavis, genannt Miv.  In ihrem Haushalt lebt der Vater und dessen Schwester Tante Jean. Die Tante ist zu ihnen gezogen, weil sich Mivs Mutter offensichtlich in einem psychischen Ausnahmezustand befindet. Seit zwei Jahren scheint sie im Haus nur teilnahmslos und stumm vor sich hin zu vegetieren, wenn sich nicht wieder einen ihrer regelmäßig notwendigen Aufenthalte im Krankenhaus hat. Mivs Vater verdrückt sich gern abends mal aus dieser Situation, z.B. auf ein schnelles Bier in den Pub. Doch Mivs Leben ist liebevoll und behütet.

Tante Jean : „There’ll be trouble at t’mill“ ist nicht glücklich über Thatcher und den Niedergang Yorkshires und mit der Situation durch den Serienmörder schon mal gar nicht. Die Bedrohung durch den Yorkshire-Ripper macht auch ihnen zu schaffen, als Miv heimlich ein Gespräch zwischen ihrem Dad und Tante Jean belauscht.

Miv macht es den “Famous Five” nach

Hört sie recht? Die beiden erwägen einen Umzug, fort von Yorkshire? Das würde den Verlust von Mivs bisherigem Leben bedeuten!
Oh nein! Was würde aus ihrer Heimat, in die sie verwurzelt ist,  Cricket, der geliebten Freundin Sharon? Unvorstellbar! Denn neben allen Problemen gibt es hier viele liebenswerte Menschen. Mivs rettender Gedanke ist, die Identität des Mörders selber auf eigene Faust aufzuklären. Dann gäbe es keinen Grund mehr für einen Umzug. Schließlich hat sie ja die „5 Freunde“-Bücher (Enid Blyton: Famous Five) verschlungen!

Inspiriert von Tante Jean, die ihr ganzes Alltagsleben mit Listen für alles und jedes strukturiert, startet Miv eine eigene Liste der auffälligen Dinge. Hier führt sie Buch über die Menschen, mit denen sie in Kontakt kommt und hofft so, dem Ripper auf die Spur zu kommen. Ihre beste Freundin Sharon hat Miv enthusiastisch zur Mitarbeit überredet. Bald ist Miv von ihrer Idee vollkommen besessen.

Miv erzählt von den „Ermittlungsarbeiten“ über einen längeren Zeitraum. Es ist eine Zeit des Umbruchs zur Jugendlichen. Natürlich verändert sie sich. Im Laufe der Zeit werden aus Miv und Sharon Teenager. Während Miv sich auf ihre Verfolgungsidee fixiert, merkt sie, dass Sharon allmählich erwachsener wird. Ihre berührende Freundschaft öffnet sich für zwei tolle Jungs, dem pakistanischstämmigen Ishtiaq. und Paul. Doch die Liste wird das Geheimnis der Mädchen bleiben.

Entlarvungen und Rehabilitierungen

Abwechselnd mit den Kapiteln aus Mivs Sicht, erleben wir in weiteren Kapiteln die Blickwinkel von Erwachsenen, auf die Mivs scharfes Auge des Verdachts fällt. Denn die Leute in ihrem Ort sind nicht so harmlos, wie sie an der Oberfläche erscheinen. Manche Wahrheiten sind dann schwer zu ertragen. Miv stochert herum, bringt Dinge in Gang, die sich selbst weiter entwickeln. Mal in positive Richtungen aber auch in negative.
Aber sie muss auch viele „seltsame Dinge“ revidieren, weil sich die Verdachtspersonen als harmlos, liebenswert, warmherzig und absolut unschuldig herausstellen. Miv lernt fürs Leben.
 


Fazit

Das farblich positiv anmutende Cover stellt ein kleines Rätsel dar, was wir nun gut lösen können. Die Zettel ordnen wir Mivs Liste zu, die Milchflaschen Mrs. Thatcher. Was will uns der Rabe sagen? Mag man ihn als dunklen Boten sehen? Ich schätze Raben eher als clevere helle Köpfe, Knobler und Problemlöser. Vielleicht findet ihr die Lösung.

Der Roman erzählt eine Coming-of-age-story aber auch eine kleine Gesellschaftsstudie  vor recht deprimierenden, düsteren Hintergrund. Dabei hat man nie das Gefühl, dass dies Miv vollkommen herunterzieht. Miv ist durchaus klar, wie nah und gefährlich die Bedrohung ist, vor allem als sie erfährt, dass das 19 jährige Opfer Josephine Whitaker aus Halifax nur wenig älter ist als sie. Aber sie hat eine gewisse Resilienz entwickelt.

Wunderbare Charaktere

Mit Miv hat die Autorin eine unvergessliche Hobbydetektivin geschaffen. Sie hat diesbezüglich einen guten Instinkt, auch wenn sie nicht immer versteht, was sie da eigentlich aufgedeckt hat. Interessant ist, dass sie aber den Blick auf ihr eigenes Zuhause bis zuletzt vermeidet. Anfangs ist sie
noch sehr naiv, aber sie macht eine nachvollziehbare Entwicklung durch.

Die Blickwinkel der erwachsenen Charaktere in einzelnen Kaptieln fand ich erhellend und nachvollziehbar. So wird manches klar, was Miv noch nicht interpretieren kann. Manche Charaktere hätten aber noch mehr Aufmerksamkeit verdient.

Ein Charakter, der nie dargestellt wird, aber immer wie ein Schatten über allem schwebt, ist der sogenannte „Yorkshire Ripper“. Er vernichtete nicht nur das Leben der ermorderten Frauen, sondern raubte auch tausenden von Frauen ihr Recht, sich sicher zu fühlen und frei zu bewegen. Das ist in der Geschichte durchaus zu spüren. (Der Täter Peter Sutcliffe wurde von der Polizei 1981 gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt.)

Gesellschaftsstudie

In die Handlung sind auch einige dunkle Realitäten einer kleinbürgerlichen Gesellschaft verwoben wie Mobbing, Rassismus, häusliche Gewalt Ausgrenzung, Pädophilie, Sexismus, Bigotterie, Ehebruch, Suizid, Alkoholismus. Miv stochert halt in alle dunklen Ecken und wird mit harten Tatsachen über ihre Mitmenschen konfrontiert. In dieser geballten Form hat man manchmal das Gefühl, dass es  Miv  förmlich anzuziehen scheint.
Wie gut ist es, dass sie auch die positiven Überraschungen, Mitgefühl, Liebe, Zusammenhalt und Solidarität erlebt.

Der Schreibstil ist sehr angenehm und nie zu kindlich, wenn  aus Mivs Sicht erzählt wird. Allerdings ist mir das Erzähltempo  manchmal etwas zu langatmig gewesen, da hätte mehr Tempo gutgetan. Bei Miv fehlen auch die gelegentlich frechen Kommentare eines Teenagers. Sie ist schon sehr Ich- bewusst und wenig impulsiv, ansonsten ist sie ein sehr liebenswerter Charakter.

Ein wunderbares Buch für diesen Sommer! Ich würde es als Buch für Jugendliche und Erwachsene bezeichnen, denn beide können es mit Spannung und Freude lesen.

Jennie Godfrey:
Unser Buch der seltsamen Dinge
Übersetzt v. Susanne Keller
dtv-Verlag August 2024
464 Seiten

Ich bedanke mich beim dtv-Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.

3 Kommentare

  • Reply Astridka 15. August 2024 at 8:18

    Das macht ja neugierig auf ein England, das ich noch in den 1970ern kennenlernen durfte… nur merke ich grade bei meiner letzten Lektüre, dass ich Spannung gar nicht (mehr) aushalten mag. Dann lege ich das Buch zur Seite. Und da ist so ein Mörder im Hintergrund eine beunruhigende Sache. Was das Mädchen da aufdeckt im äußerlich so idyllischen äußeren Leben – das erinnert mich an meine Erfahrungen. Auf meine Liste kommt das Buch erst einmal. Danke für die Rezension!
    GLG
    Astrid

  • Reply nina wippsteerts 15. August 2024 at 18:26

    Ich habe so überlegt, ob ich das Buch nehme. (Yorkshire, Krimi, commig of age) Aber die Zusammenfassung hatte mich auf dem Cover nicht abgeholt.
    Deine Rezension dagegen schon.
    Danke Dir!
    Liebe Grüße
    Nina

  • Reply Britta 18. August 2024 at 10:17

    Dieses Buch wäre mir aufgrund seines Covers überhaupt nicht aufgefallen. Geschweige denn hätte es mich angesprochen. Dank deiner Rezension ist das nun anders.
    Die Hörprobe macht mich neugierig genug, um es auf meine Wunschliste zu packen.
    Danke dafür.
    Liebe Grüße,
    Britta

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