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Das Volk am Nordrand Europas {2 Buchtipps}

28. Juni 2024

Bei den derzeitigen Temperaturen zieht es mich ganz in den Norden Europas. Schauen wir also mal in die Gebiete nördlich des Polarkreises. Dies ist die Heimat der Sami, ein ursprünglich nomadisches indigenes Volk. Die veraltete Bezeichnung „Lappen“, die viele von uns noch kennen, gilt bei ihnen übrigens als Beleidigung.

Die Sami

Die Sami siedel(te)n im Norden Skandinaviens, Finnland und auf der russischen Halbinsel Kola. Ihre Geschichte kann bis über 10.0000 Jahre zurückverfolgt werden. Die Zucht von Rentieren ist seit mehr als 3.000 Jahren dokumentiert. Das traditionelle Siedlungsland (Sápmi) geriet im späten Mittelalter in das Staatsgebiet der skandinavischen Staaten.
Als Folge davon ergaben sich der Einzug hoher Steuern, Unterdrückungsmaßnahmen, darunter auch Zwangsarbeit in Minen.  Die eigene samische Naturreligion wurde verboten, stattdessen mussten sie sich der Christianisierung beugen.  Im Laufe der Zeit wurden die Sami zu Sesshaftigkeit verpflichtet. Bis in die Neuzeit litten sie unter Repressionen und mussten um ihre Anerkennung ringen. Unter ihren Siedlungsgebieten liegen wichtige Bodenschätze und wecken weiterhin Begehrlichkeiten.

Vielleicht kennt ihr die wunderschönen Kinderbücher, mit denen meine eigenen Kinder noch die traditionelle Lebensweise dieses Volkes kennengelernt haben. (Vermutlich sind sie heute vergriffen.)

Von Fragezeichen bei Covern und Titeln

Die schwedische Autorin Ann-Helén Laestadius stammt selber aus einer samisch-tornedalfinnischen Familie. In ihren beiden aktuellen Romanen schildert sie die andere Seite dieser schön gemalten Kinderbilder der Sami, mit den schweren Lebensrealitäten und der Unterdrückung.

Allein von den Titeln oder den Covern wäre ich niemals auf die Idee gekommen, diese beiden Romane der Schwedin in die Hand zu nehmen. Mich haben eher positive Rezensionen auf die Spur gebracht, dass sich das Lesen lohnen könnte.

Mir ist auch absolut nicht klar, wie man solch unpassende Titel und irreführende Cover auswählen kann. Es hinterlässt bei mir nur ein Kopfschütteln. Warum kann man nicht zur direkten Übersetzung und den genialen Covern des Originals greifen? (Hier mal die Links zu den schwedischen Originalen: Stöld und Straff, Werbung, falls ihr sie auf schwedisch lesen wolltet).

Geplant hat die Autorin offenbar eine Trilogie von Romanen, die sich um die Geschichte der Sami dreht. Die beiden ersten Romane sind problemlos getrennt voneinander zu lesen.

Ann-Helen Laestadius: “Das Leuchten der Rentiere”

“Das Leuchten der Rentiere” (wer kommt auf so einen Titel??) heißt im Original „Stöld“, zu deutsch Diebstahl.

Obwohl dieser Roman als Fiktion geschrieben wurde, beruht er auf Tatsachen. Dieser „Diebstahl“ bezieht sich auf einen brutalen und qualvollen Fall von Wilderei an einem jungen Rentier eines Sami-Mädchens Elsa. In der schwedischen Rechtsprechung fällt das wohl nur unter Diebstahl von Gegenständen und gibt dem Tatbestand eine recht niedrige Priorität. Das bedeutet allerdings, dass hunderte von ähnlichen Fällen schnell geschlossen werden, bevor es überhaupt zu näheren Untersuchungen und Aufklärungen kommen kann. Dabei betrifft es die Lebensgrundlage eines Volkes!

Im Roman wird die ablehnende bis feindliche Haltung zwischen den Sami und den anderen Dorfbewohnern dargestellt. Manchmal ziehen sich die Grenzen auch zwischen den Sami, die sich den nichtindigenen Schweden angepasst haben und jenen, die die Kultur weiter pflegen.

Erzählt wird die Geschichte des kleinen Mädchens Elsa, die Zeugin der Wilderei wird und unter Drohungen schweigen muss. Wir sehen, wie sie aufwächst und lernen viel über das Halten der Rentiere, die Kultur der Sami, ihr heutiges Leben und Familiengeschichte. Rentiere sind mehr als Lebenserwerb der Sami, sie sind Teil ihres Lebens und ihrer Kultur.  

Manchmal hat der Roman etwas von einem Kriminalroman, dann wieder von einer Familiengeschichte, dem Erwachsenwerden und kulturelles Augenöffnen. Wir lernen auch die ältere Generation kennen. Das ist wichtig, denn im zweiten Roman dreht es sich um sie. Was ist ihnen angetan worden? Warum sind sie im Alter so wie sie sind?

Ann-Helen Laestadius: “Zeit im Sommerlicht”

Den Titel “Zeit im Sommerlicht” empfinde ich fast schon als Hohn mit dem Blick auf das Erzählte. Im Original heißt er „Straff“ – Strafe oder Bestrafung.  

Die schwedische Gesellschaft hat viel an Wiedergutmachung dem indigenen Volk der Sami gegenüber zu leisten, wenn man sich die Qualen und Leiden dieser Menschen anschaut. Dieser Roman beschreibt an Schicksalen der vorherigen Generation, wie die Sami-Kinder in den 1950iger Jahren den Eltern weggenommen wurden und in „Nomadenschulen“, also Internaten erzogen wurden. Sie sollten die Schwedische Sprache sprechen, ihre eigene Sprache wurde ihnen im Internat verboten. Gewalt und Grausamkeit waren an der Tagesordnung. Wir lernen verschiedene Kinder kennen (z.B. die spätere  Großmutter Elsas aus dem ersten Roman) und sehen, was diese Misshandlung und Missbrauch aus ihnen macht. Die Verletzungen an Körper, Seele und Geist bleiben, aber die Reaktionen sind unterschiedlich.  

Mich haben beide Romane sehr berührt und bewegt. Danach mag man aber nicht mehr an die heile Bullerbü-Welt glauben…. Auf jeden Fall eine Leseempfehlung

beide Bücher selbst gekauft und bezahlt….

Ann-Helén Laestadius:
Das Leuchten der Rentiere

Zeit im Sommerlicht

beide übersetzt v. M. Barth und D. Mißfeldt
beide erschienen bei Hoffmann und Campe

1 Kommentar

  • Reply Friederike 29. Juni 2024 at 21:32

    Danke für die Buchtipps, wieder sehr interessant! Ich wusste auch nicht, dass es den Samen so ergangen ist wie den UreinwohnerInnen in den USA und Kanada etc etc… Mich erschüttert dies immer wieder.
    Lg

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