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Die volle Wucht Georgiens {Buchtipp}

9. Mai 2024

Nachdem ich vor einiger Zeit den Roman „Das achte Leben“ von Nino Haratischwili. gelesen hatte, war mein Interesse für Georgien geweckt. Derzeit ist die Situation in dem Land wieder aufgeladen und bedrohlich. Sicher habt Ihr Bilder von den großen Protesten in Tiflis gegen die Einflussnahme Moskaus auf die georgische Politik gesehen.

Der Autor des Romans, den ich euch heute vorstellen möchte,  heißt Leo Vardiashvili. Er ist selber in Georgien geboren und nach der Flucht im Kindesalter aus der bürgerkriegsgeschüttelten Heimat in England aufgewachsen. (Darin ähnelt er seinem Protagonisten in diesem Buch). Sein Debütroman hat mich absolut durch seine Tiefe und Kraft überrascht. Ich hoffe ganz stark, dass dieser talentierte Autor das Schreiben fortsetzt.

Leo Vardiashvili: “Vor einem großen Walde

Als der Erzähler Saba nach 18 Jahren als Flüchtling in England zurück in Georgiens Hauptstadt Tiflis ankommt, scheint er im Inneren genauso zersplittert und aufgewühlt zu sein wie sein Herkunftsland. Man schreibt das Jahr 2010. Georgien hat gerade einen zerstörerischen Krieg und einen schwierigen Waffenstillstand hinter sich. (Kaukasuskrieg 2008 mit Russland und den von Russland unterstützten, international nicht anerkannten Republiken Südossetien und Abchasien auf der anderen Seite.)  Dem Konflikt folgten Jahre des Bürgerkriegs, die das Land an den Rand der Katastrophe brachte.

Hindernisse aus Polizei und Nilpferden

Gerade zu Sabas Ankunft ist die Stadt nach einem Unwetter überflutet, dass gar die Tiere aus dem Zoo ausgebrochen sind. Was für eine düstere, fast makabere Ausgangslage. Eine Suchaktion voller Hindernisse startet,  denn es stehen nicht nur ein Nilpferd im Weg, das die Straße blockiert, oder ein lauernder Tiger im Gebüsch, sondern auch eine korrupte Bürokratie und Beschattung durch die Polizei. 

Über Saba schwebt sowieso schon seine eigene schicksalhafte Gewitterwolke. Als achtjähriges Kind entkam er mit seinem älteren Bruder Sandro und seinem Vater Irakli den Bürgerkriegswirren nach dem Zerfall der Sowjetunion nach England. Die Mutter der Kinder musste der Vater damals aus Mangel an Geld für ein Visum in dem nun unabhängigen Georgien zurücklassen.  Mittlerweile ist Mutter Eka verstorben. Sabas Vater ist vor kurzem in die Heimat zurückgekehrt und gilt als verschollen. Schon lange hatte er davon fabuliert, sich von den Orten der Vergangenheit verabschieden zu wollen. Bruder Sandro folgte seinen Spuren und verschwand ebenfalls. Nun ist es an Saba, sie beide zu finden. Schon bei der Zwischenlandung in Kyjiw/ Ukraine warnt ein Unbekannter Sabo vor der Weiterreise. Auf georgischem Boden wird er gleich von der Polizei wegen seines Nachnamens kritisch beäugt. Sein Vater hätte einen Mord begangen, wird ihm erzählt und gleich sein Pass eingezogen. Das nennt man üble Startbedingungen.

Saba folgt nun einer Art von  “Brotkrumen-Spur”, ein bildreiches Spiel in Anlehnung an das grimm’sche Märchen von Hänsel und Gretel, das Sandro und Saba in ihrer Kindheit gespielt haben. Die Spuren die Saba verfolgt, sind voller literarischer Verweise, z.B. auf Märchen, Shakespeare, Charles Bukowski. Allerdings agiert er hierbei nicht wie ein engagierter Detektiv, sondern wie ein desorientierter Fremder in einer ihm unkenntlich gewordenen Ursprungsheimat.

Schicksalsgefährten

Gut, dass Saba nicht allein bleibt auf der Suche nach Sandros Graffitis und weiteren Hinweisen. Rasch steht ihm ein georgischer Taxifahrer, Nodar, zur Seite. Was für ein offenherziger, tapferer Schicksalsgefährte für den liebenswerten Saba in diesem bedrohlichen Umfeld!

Nodar trägt schwer an dem Schicksal seiner eigenen Familie. Seine siebenjährige Tochter Natja ist seit dem Krieg in Südossetien vermisst, als Nodar und seine Frau Ketino überstürzt fliehen mussten.
Trotz dieses Kummers hat der lebenserfahrene Nodar schnell  einen humorigen Spruch auf den Lippen. Frei nach dem Dschungelbuch erklärt er Sabo zu Mogli und schreibt sich selber so die Rolle des bärigen Balu zu. Das passt, denn Nodar trägt eine ganz besondere Weisheit.    

  „Es heißt, so was bringt Unglück. […] Du musst sie bis zum Ende vorlesen, auch wenn dein Kind schon eingeschlafen ist.“

S. 117

Bald tummeln sich in Sabas Kopf die imaginären Stimmen der Menschen, die er längst verloren hat. Sie ziehen ihn für Momente aus der Gegenwart heraus, während sie ihm zusprechen, unterstützen, ermahnen oder an etwas erinnern. Ein Unterstützer ist sein betrunkener Nachbar aus der frühen Kindheit, der ihn beispielsweise vor georgischen Krankenhäusern warnt. Erinnern wird ihn immer wieder die Kindheitsfreundin Nino. Sie ist immer eine gefährliche Kommentatorin, denn sie trägt ihm etwas nach: Sabas kindlicher Versuch sie zu beschützen, hat sie damals das Leben gekostet. 

Was durch die Welt der Finsternis führt

So hangeln sich Saba und Nodar an Erinnerungsorten, an den hinterlassenen Graffitibotschaften des Bruders, und kryptischen Seiten eines väterlichen Theaterstückes entlang, die immer voller Magie, Literatur und mystischen Bildern sind. Nebenbei tauchen sie ein in die tragische Geschichte Georgiens, seine Kultur und Natur.

Doch irgendwann kommt der Moment, wo die „Brotkrumen“ enden, weil der Bruder selber zum Gejagten wird. Nun muss sich Saba selbstständig seinen schicksalhaften Weg bahnen. Das ist der Augenblick, wenn der Roman zu einem ganz großen Wurf anhebt.

Fazit

Schon der Titel des Romans ist voller märchenhafter Magie, denn er bezieht sich auf den finsteren, bedrohlichen Wald der Gebrüder Grimm, in den Hänsel und Gretel geführt werden, wo die Hexe lauert. Nodar beginnt dieses Märchen mit den Worten „Vor einem großen Walde…“ .  Der dunkle, bedrohliche Wald zieht sich wie  ein roter Faden durch das Buch. Der Autor benutzt ihn als Metapher und als Realität. Es ist ein verlorener Ort, der mal Schutz, dann auch wieder Gewalt, Verrat und Tod birgt.  Der Ursprung des Bildes der kindermordenden Baba Yaga (Hexe), des Bösen, wird zunehmend klarer und realer.

„Bruder, jeder Wald in Georgien hat seine Hexen, Süßigkeiten, die an Zweigen hängen und Baba-Jaga-Hütten, die auf Hühnerbeinen herumhüpfen.”

S. 358

Vardiashvilis Sprache ist ungemein poetisch, mit einem außerordentlichen Reichtum an Bildern und Magie. Dazwischen steht herrlich Nodar mit seinem augenzwinkernden, oft schwarzen Humor. Gleichzeitig berührt der Roman durch seine ganz klare Darstellung der bedrückenden Konsequenzen von Krieg, dem Konflikt durch die Aggression Russlands. Dem Autor gelingt es, dass wir das Leid spüren, das Blut fließen sehen.
Ganz speziell sind die Stimmen der Toten, die Saba unablässig begleiten und oft auch quälen.

Vollkommen eingenommen bin ich durch die authentischen Charaktere, die mir sofort ans Herz gewachsen sind. Sogar die imaginären Stimmen in Sabas Bewusstsein sind voll ausgestaltet.
Ich kann sofort Sabas Wunsch nachvollziehen, durch die Spurensuche seine Familie wieder zu komplettieren. Der Vorwärtsschub, der einen durch Tiflis, weitere Städte bis ins Hinterland Georgiens treibt, ist intensiv zu fühlen  Finsternis und Verlust sind ständige Begleiter. Sowohl Saba als auch Nodar sind traumatisiert beim Versuch, die verlorenen Teile wieder zusammenzufügen.

Nodar wird ganz unerwartet ein sehr wichtiger Charakter im Handlungsverlauf. Mir gefällt vor allem sein Galgenhumor. Dieser ist sein Versuch, um mit der Tragik seiner Lage umzugehen, um den Mut nicht zu verlieren. Mir kommt es so vor, als könnte diese Art typisch georgisch sein.

Georgische Momente

Immer wieder scheint die Liebe zu Georgien hindurch. Man erlebt die schönen Seiten der georgischen Kultur (wie z.B. die große Gastfreundschaft trotz eigenem Hunger oder Not). Doch auch die negativen Seiten wie z.B. die Korruption werden offen dargestellt. Man nimmt etwas Wissen über die Geschichte Georgiens mit. Sogar die  Überflutung des Zoos von Tiflis und der Ausbruch der Tiere sind tatsächlich passiert (im Jahr 2015).

Mir hat ganz besonders gefallen, dass der Autor Saba nach dem zweiten Drittel des Buches die Verfolgung der „Brotkrumen-Spur“ erlässt. Dadurch bekommt die Handlung noch einmal einen ganz eigenen, berührenden Charakter. Mitzuerleben, wie Saba in den Bergen des Kaukasus die  schlimmeren Konsequenzen des Krieges erlebt und wie er emotional damit umgeht, ist herzzerreißend. Der Gegensatz von lustig zu grausam, wird hier immer härter und nimmt einem den Atem, treibt einem schließlich die Tränen in die Augen.

Für mich gehört dieser Roman schon jetzt zu meinen Lese-Highlights dieses Jahres.

Ich bedanke mich beim, Claasen .Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.

Leo Vardiashvili:
Vor einem großen Walde
übersetzt von: Wibke Kuhn
Claasen Verlag, März 2024
464 Seiten

  • Friederike 10. Mai 2024 at 8:58

    Ich schließe mich an, liebe Andrea, das Buch ist ein Lesehighlight und ich würde auch gern mehr von dem Autor lesen. Und die Übersetzerin hat die Stimmung und die teils witzigen Dialoge sehr gut getroffen, finde ich. Ich bin beim Lesen gerade an dem Punkt, wo die Brotkrumenspur geendet hat und sie unterwegs sind…. Bin sehr gespannt, wie es weitergeht.
    Wer mehr über die jüngste Geschichte Georgiens und das Leben in Tiflis aus der Sicht von 4 Freundinnen lesen will, dann ist “Das mangelnde Licht” von Nino Haratischwili mein Tipp . Auch dieses Buch habe ich mehrmals gelesen, wie meistens, es hat mich sehr berührt. Kennst du es?
    Danke dir für die schöne und ausführliche Rezension, lg

  • Britta 19. Mai 2024 at 10:44

    Heute morgen in aller Frühe habe ich mir die Leseprobe gegönnt und ich bin sehr begeistert. Daher habe ich auf meinem Blog eine Leseempfehlung ausgesprochen und dein Rezension verlinkt. Ich hoffe, das ist okay für dich ?

    Das Buch habe ich mir dann auch direkt mal bestellt. Ich möchte einfach wissen, wie es weiter geht.
    Liebe Grüße
    Britta