Das Wetter ist kalt, fies und grau? Es dürstet Euch nach Farben, buntem Leben, Warmherzigkeit, Herzensgüte, mediterranem Flair? Dann habe ich hier ein Buch, mit dem ihr Euch auf dem Sofa einkuscheln und ein Fenster in eine liebevolle Welt aufstoßen könnt.
Sarah Winman: “Das Fenster zur Welt”
Während 1944 in Italien die Bomben fallen, treffen sich in der Ruine eines Weinkellers einer Toskanischen Villa zwei ganz unterschiedliche Fremde und verbringen einen einzigartigen Abend. Der eine ist Ulysses Temper, ein junger englischer Soldat. Die sechzigjährige Evelyn Skinner ist eine britische Kunsthistorikerin und ist nach Italien gekommen, vor allem um Kunstwerke zu retten. Letztendlich wollte sie auch ihre Erinnerungen an ihre italienische Zeit wieder zum Leben erwecken, ganz besonders an ihre große Liebe Livia.
Ein zündendes Zusammentreffen
Evelyn gelingt es durch ihre Einsichten, ihre große Leidenschaft für die Kunst, Italien, besonders Florenz, einen Sämling in Ulysses‘ Gemüt zu pflanzen. Dieser geht dort an, gedeiht und wird seinem weiteren Leben und dem seiner Freunde eine bestimmte Richtung geben.
Evelyn sieht etwas Besonders in Ulysses, eine Art Gefährten im Geiste, empfindet sich wieder jung. Ulysses fühlt sich ebenso zu Evelyn hingezogen. Es entsteht eine ganz besondere Beziehung in dieser kurzen Zeit. Eine Verbindung, die sie beide in Gedanken über Jahre begleitet. Man wartet sehnsüchtig darauf, dass sich die beiden wiedersehen. Doch stets verpassen sie sich knapp.
Diesen Tanz sollten Evelyn und Ulysses noch jahrelang fortführen. Nur in Gedanken waren sie immer beeinander. Ein eleganter Two-Step, geboren aus einem Jig an einem Straßenrand in der Toskana.
S. 283
Zunächst kehrt Ulysses aber heim nach London, wo seine Frau Peg inzwischen das Kind eines anderen Mannes geboren hat.
Ulysses Temper ist ein warmherziger Mann, der meist an das Wohlergehen der anderen denkt. Kein Wunder, dass dieses Kind Alys wichtiger Teil seiner Wahlfamilie werden wird. Und er wird das Ruder seines Lebens herumdrehen, denn durch seinen Mut und sein großes Herz wird ihm ein Erbe zuteil.
„Incipit vita nuova“ … „So beginnt ein neues Leben.“
S. 235
In den nächsten vier Nachkriegs-Jahrzehnten werden wir als Leser*innen mit Ulysses und seiner Wahlfamilie – Alys, seinen Freunden Cress und Col, Peg u.v.a. – zwischen dem Pub im ärmlichen Londoner East End und dem neuen Lebensmittelpunkt in der sonnigen, charmanten Stimmung von Florenz pendeln. Kein Wunder, dass sich die Charaktere dann vor allem in Florenz in Ulysses Pension versammeln. So können wir es genießen, durch die Gassen der Stadt zu wandeln, die durch die reiche Kunst und Geschichte der Renaissance geprägt ist.
Man nimmt Teil an persönlichen Entwicklungen, Trennungen, Verlusten, Trauer, Sorgen, Überraschungen, den Schicksalswegen, dem Alltagsleben der ganz speziellen Charaktere.
Auch die exzentrische Evelyn werden wir Leser*innen wieder treffen. Gerade durch die Figur dieser lesbischen Kunsthistorikerin bekommen wir viele spannende Einblicke in die Kunst und Architektur von Florenz.
Natürlich geht die politische Zeitgeschichte nicht an ihnen vorüber, so dass die 70iger Jahre in Italien sie sehr aufwühlt.
„Wir durchleben immer noch das ideologische Erbe der französischen Revolution, Hitlers und Mussolinis“ sagte Evelyn. „Kratzt man an der Oberfläche, hebt das Monster wie gehabt seinen Kopf. Das Böse wurde zwar besiegt, aber es hat sich nicht in Luft aufgelöst. Das ist etwas, womit wir leben müssen, Ulysses.“
S. 432
Fazit
Eigentlich gleich dieser Roman einem Stillleben. Mit dem zarten Pinsel einer ausgewählt poetischen Sprache ist es wie ein Gemälde aufgebracht. So bunt, mediterran und frisch, wie auch das Cover des Buches, aber auch voller Weisheiten.
Es taucht zwar eine große, vielfältige Menge an Charakteren über eine erzählte Zeitspanne von 40 Jahren auf, aber eine eigentliche Handlung oder einen Spannungsbogen findet man kaum. Das ist etwas, was ich doch vermisst habe.
Ulysses ist ein wunderbarer Hauptcharakter und der Grund, immer wieder zum Buch zurück zu kehren. Ein schieres Labyrinth an Charakteren ist miteinander durch die Liebe, den Krieg, die Kunst, das Schicksal verknüpft. Selbst ein sprechender Papagei und kommunizierende Bäume tauchen auf.
Ein bunter Fächer an Charakteren und Geschichtchen
Statt eines Spannungsbogens folgt man den Schicksalswegen der vielen Charakteren, und denen zweier Städte. So kann man sich an der stimmungsvollen Beschreibung der Entwicklung von London und vor allem Florenz in diesen Nachkriegsjahrzenten erfreuen. Besonders beeindruckend sind dabei die Schilderungen der verheerenden Flutkatastrophe von 1966, die sehr bewegend dargestellt wird.
Über ein paar Unebenheiten in der Übersetzung bin ich gestolpert, wie z.B. Alys „Mulltuchbluse“, bei der es sich wohl um eine Musselin-Bluse handeln müsste.
Im Endeffekt kann sich jeder etwas ganz Unterschiedliches aus dem Erzählen der kleinen Dinge des Lebens, der Beziehungen, Entwicklungen, Schicksale mitnehmen. Bei manchen hallt es nach, anderen sagt es vielleicht weniger. Eintauchen und Entspannen ist auf jeden Fall garantiert.
Ich bedanke mich beim, Klett-Cotta-Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.
Sarah Winman
Das Fenster zur Welt
Übersetzt v. Elina Baumbach
Verlag Klett-Cotta, April 2024
528 Seiten
Ich bin momentan in so ganz andere Fensterblicke „verstrickt“, dass ich kaum den Blick wechseln kann, um anderes zu schauen. Deshalb hab ich wohl meinen Kommentar heute früh versemmelt. Jetzt wünsche ich dir aber noch eine gute Nacht!
❤️lich
Astrid