Hinter berühmten Männern steht oft eine ganz besondere Frau, das lehrt die Erfahrung. Heute lernen wir eine dieser Frauen hier kennen:
Christoph Wortberg: “Gussie”
Wie Memorykärtchen, die gerade aufgedeckt werden, so kommt mir das wunderschöne Cover auf den ersten Blick vor. Man ahnt schon, dass es sich um eine aparte junge Frau handelt, die sich dahinter verbirgt. Doch wer ist sie? Interessanterweise zeigt dieser Ausschnitt ein Gemälde einer Frau, die Gussie gerufen wurde. So lautet ja auch der Titel des Buches.
Wer verbirgt sich hinter diesem Rufnamen? Es ist Auguste Adenauer, geborene Zinsser, die zweite Ehefrau des ersten Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer. Das Gemälde war sein Lieblingsbild seiner Frau.
Letzte Blicke zurück
Ausgangspunkt dieses Romans, der die Biographie von Gussie Adenauer ins Zentrum stellt, ist das Jahr 1948. Gussie Adenauer ist erst 52 Jahre alt und liegt im Bonner Johannes-Hospital im Sterben. Um ihr Ende wissend blickt sie zurück auf ihr Leben, sie „reist zurück in der Zeit“. Wie beim Memory-Spiel wird ein Erinnerungskärtchen nach dem anderen aufgedeckt, bis vor unseren Augen ein Persönlichkeitsbild dieser Frau erscheint. Dabei kehren wir immer wieder zur sterbenden Gussie zurück.
Wir lernen Gussie als junges Mädchen kennen, eine Arzttochter, die 1919 den verwitweten Kölner Oberbürgermeister (seit 1917) Konrad Adenauer heiratet. Dieser ist 19 Jahre älter als sie, Vater von drei minderjährigen Kindern und hat unter tragischen Umständen seine Frau Emma verloren. Gussies Familie war mit der Familie Adenauer aus der Nachbarschaft bereits freundschaftlich verbunden. Dabei verabschiedet sie sich von ihren Zukunftsträumen:
„man kann nur ein Leben leben…“
(S. 157)
Gussie wird eine verliebte Ehefrau, eine liebevolle Stiefmutter und schenkt selber fünf Kindern das Leben. Der traurige Verlust des ersten Sohnes wenige Tage nach der Geburt begleitet sie ihr Leben lang.
Es ist sehr spannend, das Schicksal der Adenauers nach dem Ende des 1. Weltkriegs, durch die wilden 20iger Jahre bis zum Durchbruch des Dritten Reiches zu beobachten. In Gussies Leben verflechten sich Familiäres, Öffentliches und Politisches eng. Die junge Frau engagiert sich sozial und politisch.
Alles verändert sich zum Bösen
Mit der Machtübernahme der Nazis ändert sich das Leben der Familie komplett. Konrad Adenauer wird observiert, verfolgt, er muss fliehen, sich verstecken, wird inhaftiert. Sein Leben ist in Gefahr. In dieser Zeit erdrückt die Last, die Gussie zu tragen hat, sie fast.
Am Ende stehen Verhöre der Gestapo, eine unmenschlich erzwungene Entscheidung und Lagerhaft. Gussie Adenauer stirbt nur wenige Jahre nach dem Krieg an den Folgen dieser Ereignisse. Sie erlebt nicht mehr, wie ihr Mann der erste Bundeskanzler wird. Er wird sie um fast 20 Jahre überleben.
„Die wenigen Mutigen kommen ihr in den Sinn. Sie haben mit ihrem Leben bezahlt. Wärest du dazu bereit gewesen, Gussie? Es ist nur menschlich, vor der eigenen Angst in die Knie zu gehen. Widerstand ist ein großes Wort. Wer sind wir, uns ein Urteil anzumaßen?“
(S. 79)
Fazit:
Der Autor Christoph Wortberg wagt ein Buch, das von Anfang an das tragische Ende offenlegt und nie aus den Augen verliert. Das ist sehr berührend. Es gibt ihm die Möglichkeit, dass Gussie, ihr Leben nochmal vor Augen, kommentieren und gewichten kann. Gleichzeitig zieht sich so ein Hauch von Melancholie durch die Seiten.
Sehr gelungen empfinde ich, dass der Autor Christoph Wortberg bei den Rückblickskapiteln eine gewisse Chronologie einhält und zwischendurch immer wieder zur sterbenden Gussie zurückkehrt. Denn auch noch in den letzten Tagen zeigt sie ihre besondere Persönlichkeit.
Die Zeitstränge lassen sich gut einordnen, da kleine (nachempfundene) datierte Briefzitate an und von Gussie den Kapiteln vorangestellt werden. Nebenbei wird so auch die Zeitgeschichte durch Gussies Augen erlebbar.
Man bekommt einen sehr berührenden Eindruck von Gussies Charakter. Ihre Emotionen, ihre Sicht auf die Zeit und auch die Zweifel an den eigenen Entscheidungen sind sehr gut nachvollziehbar.
Von Anfang an beweist die junge Frau großen Mut, Empathie und Stärke. Man kann sich kaum vorstellen, wie ihr Mann seine Familie, gesellschaftliche und politische Aufgaben je ohne sie hätte bewältigen können.
Eine Geschichte die unter die Haut geht
Besonders berührt haben mich ihre Jahre im Dritten Reich, in denen sie vor schier unlösbare Aufgaben gestellt wird und an der Grausamkeit der nationalsozialistischen Machthaber zugrunde geht. Die Atmosphäre der Bedrohung, Angst, Ausweglosigkeit ist selbst beim Lesen sehr beklemmend. Hier gehen die Geschehnisse unter die Haut.
Dem Buch liegt eine sehr gründliche Recherche zugrunde. Die Romanform schenkt dem Autor gegenüber einem biographischen Sachbuch einige Freiheiten. So können wir als Leser*in auch viel besser in die Gefühlswelt Gussies eintauchen.
Der Schreibstil ist bildhaft, knapp und mit einer großen Tiefe, sodass ich das Buch ungern aus der Hand legte. Von mir aus hätte es gern noch ausführlicher und länger sein dürfen.
Auguste Adenauer werde ich gewiss nicht so schnell vergessen durch diese sehr bewegende und tiefgründige Darstellung.
Ich bedanke mich beim, dtv-Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.
Christoph Wortberg:
Gussie
dtv: April 2024
288 Seiten
Alleine, weil die Geschehnisse hier vor Ort sind und dann natürlich Deine Schilderung lassen mich nun nach dem Buch Ausschau halten. Ich gestehe, dass ich den Namen nicht kannte und “Gussie” eigentlich als Titel furchtbar fand. (und nicht genauer geschaut habe)
Liebe Grüße
Nina
Interessant, für mich als Spürnase für Frauengeschichten und dann natürlich als (Wahl-) Kölnerin. Grade mal wieder von Adenauers Haft in der NS-Zeit gehört. Es ist und bleibt ein spannendes Kapitel unserer Geschichte. Dem Buch wünsche ich viele Leser*innen,
GLG
Astrid
sehr bewegend hast du das Buch vorgestellt
ich habe mich mit Adenauer kaum befasst
und wußte kaum etwas über seine Familie
dabei gibt es sogar Berührungspunkte
der Großvater meines Mannes war mit Adenauer bekannt oder sogar befreundet
allerdings hatte mein Mann keinen Kontakt zu ihm
denn er hatte die Familie verlassen
auch meine ältere Bekannte um die ich mich kümmerte
erzählte mir davon dass ihr Sohn mit einem Adenauersprößling in einer Klasse war 😉
es war schon interessant was sie so zu erzählen hatte und hätte auch ein gutes Buch abgegeben
liebe Grüße
Rosi
Ich habe über die zweite Frau Adenauers einige Informationen im Adenauer Haus bei Bonn in einer sehr guten Ausstellung erfahren können.
Allerdings glaube ich, dass das Buch weit mehr über sie hergibt, es kommt auf jeden Fall auf meine Liste.
Denn schon in der Ausstellung fand ich ihr Leben bemerkenswert mutig und trotzdem kommt sie nur als stille Frau an der Seite Adenauers dort zur Geltung.
Danke für den Buchtipp.
Lieben Gruß
Nicole