Als Jahresprojekt hatte ich mir vorgenommen, jeden Monat mindestens eine Buchrezension auf dem Blog zu veröffentlichen. Voila, hier kommt schon mal ein sehr berührender Roman, den ich gerne weiterempfehle:
Dani Shapiro: Leuchtfeuer
Bitte lasst Euch nicht vom Cover dieses Buches täuschen. Es sieht zwar farblich recht ansprechend aus, hat aber absolut gar nichts mit dem Inhalt des Buches zu tun. Allein der Titel „Leuchtfeuer“ (Orig. „Signal Fires“) lässt schon die Zusammenhanglosigkeit von Außen und Innen erahnen. Das gänzlich anders gestaltete Cover der amerikanischen Originalausgabe greift eher den Inhalt des Romans auf. Schade, dass es nicht übernommen wurde.
Nächte der Entscheidung
Dani Shapiros Roman fängt recht dramatisch an. 27. August 1985, Avalon/ NY: Zwei junge Teenager treffen fatale und folgenreiche Entscheidungen. Die 17jährige Sarah Wilf hat, schon leicht angetrunken, ihrem zwei Jahre jüngerem Bruder Theo die Zündschlüssel des Familienautos zugeworfen. Er soll sie und eine gemeinsame Freundin heimchauffieren. Das kann nicht gutgehen. Fast daheim wickelt der vollkommen überforderte Theo den Wagen um einen Baum. Misty Zimmerman, die Beifahrerin wird den Unfall nicht überleben. Um ihren Bruder zu schützen, behauptet Sarah, dass sie am Steuer gesessen hätte.
Auch ihr zu Hilfe eilender Vater, der Arzt Ben Wilf, trifft eine Fehlentscheidung. Ben, ein sehr empathischer Mensch und liebevoller Vater ist dankbar, dass seine Kinder überlebt haben. Zwar erkennt er die Schuld der Geschwister, will aber Schaden von ihnen abwenden. Doch er vermag es nicht, das Schicksal seiner Kinder zu schützen. Denn die Ereignisse jenes Augusttages werden sich fundamental auf die Entwicklung ihres Lebens und ihrer Persönlichkeit auswirken.
Von diesem Augenblick an, fällt die gesamte bislang ganz normale Vorstadt-Familie Wilf – Ben, seine Frau Mimi, Sarah und Theo – in ein Schweigen über ihr gefährliches und tragisches Geheimnis. So tief es auch verborgen scheint, wird es die Seele dieser liebevollen Familie auseinanderreißen.
Um die Auswirkungen der Tragödie auf die Geschwister, die Eltern und das Universum zu verstehen, werden wir durch einen allwissenden Erzähler unchronologisch durch die Handlungsstränge geleitet. Er springt vom Tag des Unfalls bis 35 Jahre später: ins Jahr 1999/2000, dem Beginn des neuen Jahrtausends, bis hin zum Pandemiejahr 2020, mit kurzen Stopps 2014 und 1970.
Auf der anderen Seite der Division-Straße, an der das Haus der Wilfs steht, wohnen 15 Jahre später die Shenkmans. Gerade in der Neujahrsnacht, in der ein neues Jahrtausend beginnt, wird hier dringend ein fachkundiger Helfer bei einer Sturzgeburt benötigt. Der Zufall will es, dass Nachbar Dr. Wilf rettend bereit steht, um dem kleinen Waldo auf die Welt zu helfen. Knapp zehn Jahre später werden die beiden eine lebenslange Verbindung eingehen. Da stoßen die beiden Einsamen in ihren Pyjamas in einer sternenklaren Nacht aufeinander und Waldo wird Ben mit einer App auf einem IPad seine Lieblingssternenkonstellationen zeigen und das Universum erklären. Die Sterne als Leuchtfeuer in der Nacht und auf dem Lebensweg, sind weitere wichtige Elemente dieser Erzählung.
„Die Sterne schienen nicht mehr fern und unnachgiebig, sondern wirkten eher wie Leuchtfeuer in der Dunkelheit, geheimnisvolle Reisegefährten, die einen Weg erhellen.“
S. 165
Wir erleben mit, was passiert, wenn Familien nicht über ihre Gefühle und sogenannte Geheimnisse kommunizieren. Dinge, über die nie geredet wird, finden ihre Wege, um zum Ausdruck zu kommen. Familien zerbrechen, Kinder tragen Verletzungen bis in ihr Erwachsenenalter hinein. Für manche braucht es eine Pandemie und eine gezwungene Isolation, um sich zu erinnern und zu erkennen.
Fazit
Für mich ist dies zunächst einmal ein sehr berührender, tiefsinniger Roman über persönliche Verflechtungen, die Zeit, Trauer, Liebe, Verlust, Traumata, die Sterne und das Leid, das Schweigen anrichten kann. Daneben hält der Roman viel Tröstliches und tief Philosophisches bereit, das einen noch länger begleitet.
Die antichronologische Struktur verlangt ein wenig Konzentration, zeigt aber wunderbar die Verflechtungen der Charaktere über Jahrzehnte hinweg auf. Sie spiegelt die Idee des Erzählers, dass alles miteinander verbunden und nichts und niemand wirklich ganz verloren ist.
Verbunden mit den Zeitsprüngen ist, dass die Charaktere ganz unterschiedliche Wahrnehmungen von ihrer Lebenszeit haben. Für Ben verläuft das Leben im Rückblick eher in Schlaufen, als in einer geraden Linie. Sarah empfindet eher eine Einteilung in Kapitel wie in einem Buch. Shenkman erlebt sie als eine Serie von Unfällen. Am Ende ist Mimi Wilf gänzlich mit der Alzheimer-Erkrankung aus Zeit und Raum gefallen.
Der große Philosoph ist da von Kindesbeinen an Waldo Shenkman, der spannende Einsichten an die Lesenden vermittelt. Für ihn gehen in den Sternen und Konstellationen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine Verbindung ein.
Die Charaktere sind sehr anschaulich und authentisch entwickelt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie meist unzufrieden mit den in ihrem Leben getroffenen Entscheidungen sind. Man verbindet sich rasch mit ihnen und will wissen, was aus den Protagonisten wird: den durchs Leben schlingernden Theo, die erfolgreiche, aber sich selbst zerstörende Sarah, Ben Wilf, der seine Mimi entgleiten sieht u.v.m.
Ganz besonders ins Herz geschlossen habe ich den einsamen Waldo Shenkman, ein kindliches Genie, den wir von seiner Geburt bis zum 20. Lebensjahr begleiten.
„Er war ein Einhorn. Er passte nicht in eine enge Schublade wie die anderen Jungen. Sein Gehirn war anders verdrahtet. Er musste nur seine eigene Kindheit überleben, dann würde es ihm gut gehen – besser als gut.“
S. 185
Am meisten Distanz empfinde ich zu Waldos stets ärgerlichem Vater, der einen normalen Sohn haben will, statt des außergewöhnlichen, den er halt eben bekommen hat.
Die Konstante in der Erzählung ist am Ende die große, uralte Eiche. Ihre Rolle in der tragischen Geschichte gerät rasch in Vergessenheit.
Für mein Empfinden gibt es auch eine große Leerstelle, die eigentlich mit einer Stimme gefüllt werden sollte: Misty Zimmerman, das Unfallopfer.
Auf jeden Fall trägt die Erzählung eine philosophische Intention. Dabei ist es ganz egal, was man davon hält. Berührt und fasziniert wird man auf jeden Fall. Man gerät ins Nachdenken über Waldos spannende Weltsicht und tiefe Weisheit.
Der Roman ist in einem warmen, ruhigen, anschaulichen Stil geschrieben, der sich wunderbar liest. Ein stilles, aber sehr kraftvolles Buch. Deshalb eine uneingeschränkte Leseempfehlung von mir.
Ich bedanke mich beim Verlag Hanserblau, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hat dies keinen Einfluss.
Dani Shapiro:
Leuchtfeuer
Übersetzt von U. Wasel, K. Timmermann
Hanserblau Verlag, Februar 2024
288 Seiten
So gut beschrieben wie du uns das Buch vorstellst, möchte man gleich anfangen den Roman zu lesen. Das ist ja eine grosse Kunst, eine Rezension so zu schreiben, dass das Interesse zum lesen geweckt werden kann. Das ist dir wunderbar gelungen, Andrea und ich bin mir sicher, dass es nicht nur mir so geht.
L G Pia